Das „Ukraine-Tagebuch“ „Die Jugend schaut nach Westen“

Thomas Simmer mit seiner Tochter Sofia und Mutter Irina. Foto:  

Der aus dem Raum Kulmbach stammende Thomas Simmler hält sich seit Kriegsbeginn im Süden der Ukraine auf. Diesmal erzählt er, warum er überzeugt ist, dass ihn der russische Geheimdienst abhört.

 
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Es gibt noch schöne Momente im Leben der Menschen. In dieser Woche ist unsere Tochter zehn Jahre alt geworden. Früh war sie lange beim Friseur. Das ist hier bei allen Damen so – egal, wie alt sie sind. Später saß die Familie zusammen, wir haben Karten gespielt und Geschenk gab’s natürlich auch. Normalerweise findet an solchen Tagen abends ein kleines Feuerwerk statt. Das ist diesmal ausgefallen – Kracherei erleben die Menschen seit drei Monaten genug. Normalerweise gibt es bei Feierlichkeiten in der Ukraine immer Schaschlik. Aber hier sieht man, wie die Welt sich verändert. Die Älteren machen Schaschlik, die Jugend kann mit solchen Traditionen immer weniger anfangen. Sofias Wunsch war Sushi und Pizza. Also sind wir in eine Bar gegangen und haben Sushi gegessen.

Die Unterschiede betreffen Alt und Jung, aber auch Westen und Osten des Landes. Während dort noch viele alte Traditionen gepflegt werden und die Menschen gedanklich noch sehr stark mit der Sowjetunion verwurzelt sind, ist der Westen immer stärker von Europa geprägt.

Bei der Geburtstagsfeier war Sofias Tante Lena dabei. Deren Freund hat sich freiwillig für die Armee gemeldet. Für ihn wird es jetzt ernst. Nach drei Monaten Ausbildung muss er an die Front. Die Angst um ihn ist groß. Aus dem Jahrgang, der vor ihm ausgebildet wurde, leben einige Männer schon nicht mehr. Die Tante hat erzählt, dass er sich einen Löwenkopf auf die Brust hat tätowieren lassen – zum Zeichen der Stärke und bestimmt auch, um sich Mut zu machen. In der Ukraine werden Freiwillige wenigstens ausgebildet und mit dem Kämpfen ein wenig vertraut gemacht. Die Russen schicken ihre jungen Soldaten ja fast wie Material direkt an die Front.Immerhin gibt es noch kleine menschliche Zeichen zwischen den beiden Völkern. Meine russische Ex-Frau, die seit Kriegsanfang sehr auf die russische Propaganda hereinfällt, hat Sofia ganz herzlich zum Geburtstag gratuliert. So etwas macht ein bisschen Hoffnung und ist mir persönlich sehr nahe gegangen. Protokoll: awu

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