Der Grund für die unsichere Fahrweise des 36-Jährigen war schnell gefunden: Ein Alkoholtest vor Ort erbrachte den erstaunlichen Wert von 2,56 Promille.
"Frau Wiedemann hat nicht nur den Betrunkenen selbst, sondern auch andere Autofahrer vor Schlimmerem bewahrt", sagt Polizeidirektor Thiemt. "Deshalb haben wir sie für die Auszeichnung ,Kavalier der Straße‘ vorgeschlagen."
Da die Polizeibeamten selbst wenig Möglichkeiten haben, vorbildliches Verhalten im Straßenverkehr öffentlich zu honorieren, reichen sie unter dem Motto "Lob motiviert" regelmäßig Vorschläge ein - und freuen sich, wann immer die unabhängige Jury diesen nachkommt. Üblicherweise ehrt die Arbeitsgemeinschaft "Kavalier der Straße", der auch die Frankenpost angehört, die "Kavaliere" im Rahmen eines Festaktes. Heuer mussten Glückwunschschreiben, Plakette und Anstecknadel per Post verschickt werden.
Die Berlinerin Anja Wiedemann freut sich dennoch über die Ehrung, mit der sie gar nicht gerechnet hätte. Sie war nicht zum ersten Mal in eine solche Situation geraten: Vor einigen Jahren hat Wiedemann schon einmal gemeinsam mit der Polizei einen Lkw-Fahrer gestellt, der ebenfalls betrunken war und etliche leere Wodka-Flaschen im Führerhaus liegen hatte. "Irgendwie trifft’s mich immer", sagt die 48-jährige Vielfahrerin. "Aber ich kann bei so was einfach nicht wegsehen. Ich hoffe, wenn einmal mir etwas passiert, schaut auch einer hin."
Stephan Fricke aus Berg ist jemand, der von Berufs wegen hinsieht. 13 Jahre lang ist Fricke Rettungsdienst gefahren, und seit zehn Jahren dokumentiert er als Pressefotograf so manchen Unfall. "In dieser Zeit habe ich einiges gesehen", erzählt der Oberfranke. Doch eine Situation aus dem November vergangenen Jahres geht im dennoch nicht aus dem Kopf. Fricke war auf der A 9 unterwegs, als er auf der Gegenfahrbahn ein verunfalltes Fahrzeug entdeckte. Er setzte einen Notruf ab, fuhr von der Autobahn herunter, in Gegenrichtung wieder auf und sicherte die Unfallstelle auf der linken Spur mit dem eigenen Fahrzeug ab.
"Eine Heckabsicherung hatte ich ja im Auto", sagt Fricke. "Man tut in so einem Moment alles, was möglich ist - ohne groß zu denken." Dass man sich dabei selbst in Gefahr begebe, werde einem in der Regel erst im Nachhinein bewusst. Immerhin habe er so verhindern können, dass ein weiteres Auto in die Unfallstelle krachte: "Einer hat mit quietschenden Reifen gerade noch angehalten."
Am Unfallfahrzeug angekommen, vermutete der erfahrene Ersthelfer gleich, dass für den Fahrer jede Hilfe zu spät kam. Er kümmerte sich deshalb bis zum Eintreffen der Rettungskräfte um den blutüberströmten Beifahrer. Während Stephan Fricke den jungen Mann reanimierte, seinen Kopf hielt und ihn tröstete, fuhren andere Verkehrsteilnehmer vorbei, ohne Hilfe anzubieten. So mancher zückte dabei noch das Handy. "Man erlebt das alles wie in Zeitlupe. Man hält den Kopf eines Schwerverletzten im Arm, und die Leute fahren vorbei, lachen und filmen. Das waren Bilder, die mir im Kopf bleiben", gibt der Berger zu. Da helfe ihm auch seine ganze Erfahrung nicht. Als Mitarbeiter des Rettungsdienstes fühle er sich durch seinen Rettungsdienst-Anzug in gewisser Weise vor dem Geschehen geschützt. Wenn er als Reporter unterwegs ist, befinde sich die Kamera zwischen ihm und den Betroffenen. "Aber diese Situation hat mich ganz schön mitgenommen."
Stephan Fricke darf sich wegen seines höchst ehrenvollen Einsatzes nun auch "Kavalier der Straße" nennen. Doch ernsthaft freuen kann er sich über diese Auszeichnung nicht. Der Fahrer des Unfallfahrzeugs war tatsächlich sofort tot; der Beifahrer, dem er an der Unfallstelle beistand, ist ebenfalls verstorben. Und die Staatsanwaltschaft hat mitgeteilt, dass auf den Aufnahmen der Dashcam seines Fahrzeugs leider keine Kennzeichen sichtbar waren: Alle Verkehrsteilnehmer, die vorbeifuhren, nicht halfen und teils sogar filmten, können nicht belangt werden.