Herr Reheis, nach Ihrer Auffassung erweist sich das Fortschrittsprogramm der Moderne immer deutlicher als Falle. Ihre Diagnose lautet: Wir sind beschleunigungskrank. Was verstehen Sie darunter?
Wir sind unablässig bemüht, Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal zeitsparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, fahren mit Hochleistungslimousinen, kommunizieren mit Handy und Internet, wir produzieren auf Roboterstraßen. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten, verkürzen die Sperrstunden und locken bereits im Spätherbst mit Schoko-Nikoläusen und im Spätwinter mit Schoko-Osterhasen. Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus und manche kaufen und verkaufen ihre Aktien während des Mittagessens. Aber bei all dem Bemühen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt. Wann werde ich den Zeitdruck wirklich los? Wann verschwindet die Uhr aus meinem Hinterkopf? Vermehrt sich beim Kampf gegen die zerrinnende Zeit nicht sogar der Stress?
Was raten Sie? Wie sollen wir uns aus diesem Hamsterrad befreien?
Als Einzelner kann man durchaus Nischen finden. Das sind Oasen der Ruhe, Kurorte der Zeit, die dann auch wirklich frei bleiben müssen und nicht gleich wieder anderweitig investiert und verwertet werden dürfen. Das können jene kleine Fluchten sein, in denen ich mich dem Zwang, am Arbeitsplatz ständig Leistung erbringen
zu müssen, entziehe, indem ich aus dem Fenster schaue, in einer ausgedehnten Kaffeepause meinem Kommunikationsbedürfnis nachgehe oder meinen Mittagsschlaf im Büro abhalte. Und dies bitte wohlgemerkt nicht als Mittel der Leistungssteigerung, sondern zur Schaffung einer leistungsfreien Zone, die allein der Optimierung des Wohlbefindens dient. Größere Zeitinseln könnten anders als gewohnt genutzt werden: am Feierabend nicht als erstes den Fernseher anknipsen, im Urlaub das Auto in der Garage lassen, die Einführung eines „Kauf-nix-Tages“ sind Beispiele.
Das klingt verlockend – aber führt das nicht in die Sackgasse? Welcher Arbeitgeber wird sich das lange ansehen, wenn ich einfach langsamer arbeite und mehr Pausen einlege? Was passiert mit dem Unternehmer, der nicht investiert? Wohin führt eine massenhafte Konsumverweigerung?
Der individuelle Ausstieg funktioniert tatsächlich nur in Teilbereichen. Deshalb brauchen wir eine kollektive Umkehr. Wir müssen uns auf die Suche nach natur- und menschengemäßen Formen des Wirtschaftens machen. Und das heißt vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Ökologie der Zeit: Wir müssen uns von der zeitblinden zur einer zeitbewussten Wirtschaftsordnung hinbewegen.
Sie meinen also die Abkehr vom Kapitalismus. Was sind Ihre Alternativen?
Es gibt drei, teilweise erfolgreich erprobte Alternativmodelle. Erstens: die Dualwirtschaft, also die Ausgliederung eines Teils der wirtschaftlichen Aktivitäten in einen eigenwirtschaftlichen Sektor. Zweitens: eine Marktwirtschaft, in der das Geld eine rein dienende Funktion hat – Geld ohne Zinsen – und bei der die Arbeiter selbst Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind. Und drittens: eine öffentliche Wirtschaft, in der nicht die Verwertung von Geld, sondern die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse durch das demokratisch verfasste politische Gemeinwesen der Ausgangs- und Endpunkt des Wirtschaftens ist. Auf dem weiten Weg zur Realisierung dieser Vision einer zeitbewussten Ökonomie brauchen wir jedoch als Brücke eine ökologisch-soziale Zeitpolitik.
Wie sieht so eine Zeitpolitik inhaltlich aus?
Ziel von Zeitpolitik müsste der Schutz von Eigenzeiten sein, und zwar auf allen drei Ebenen: beim Umgang mit der natürlichen Umwelt, mit der kulturellen und sozialen Mitwelt und mit uns selbst.
Bedeutet das in der Folge asketische Lebensführung und Verzicht? Den meisten Kindern der Spaß- und Konsumgesellschaft würde das sicherlich sehr schwer fallen...
Nein, ganz im Gegenteil. Nur statt des immer schnelleren Aufessens und Herauskotzens unserer Lebensgrundlagen könnten wir uns ein anderes, nachhaltigeres Genuss- und Wohlstandsziel setzen. Wir könnten uns von der „dummen“ zur „klugen“ Form des Genießens umorientieren.
Sie zitieren damit den griechischen Philosophen Epikur , den Begründer der antiken Glücksphilosophie. Für ihn war Lust nicht Ausschweifung, sondern Lebensfreude, kluge Lust, die stets die Folgen des Genusses mit berücksichtigt.
Ja, Epikur machte darauf aufmerksam, dass wir oft kurzfristig auf Annehmlichkeiten verzichten, um uns langfristig Unannehmlichkeiten zu ersparen.
Wie übersetzt man diese Erkenntnis in den Alltag?
Durch Selbsterweiterung. Wir können uns erstens in Richtung auf uns selbst, also unseren Körper, unsere Sinnlichkeit, unsere Neugierde und Kreativität erweitern. Zweitens können wir uns in Richtung auf unsere soziale und kulturelle Mitwelt erweitern. Indem wir uns für die Lebenswelt anderer Menschen interessieren, uns in deren Perspektiven und Gefühle hinein versetzen, bereichern wir uns selbst. Vermutlich sind gerade die genussfähigsten Menschen auch die sensibelsten für andere. Die Selbsterweiterung kann drittens in Richtung auf unser Verhältnis zur außermenschlichen Natur erfolgen. Ich meine hier das Erforschen der hinter den Naturphänomenen stehenden Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten genauso wie den Genuss, den das unmittelbare Naturerleben selbst, das Schauen, Hören, Riechen und Fühlen bereiten kann.
Das Gespräch führte Sabine Raithel.

ZUR PERSON

Dr. Fritz Reheis, Jahrgang 1949, promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Soziologie mit Nebenfach Politikwissenschaft und habilitierte in Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Anthropologie. Nach seiner Zeit als Gymnasiallehrer war er Lehrbeauftragter und Dozent an verschiedenen deutschen Hochschulen. Seit 2007 ist Fritz Reheis Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I, Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bamberg. Fritz Reheis lebt in Rödental bei Coburg.
sr