Auf dem Cover prangt ein Lippenpaar in Supernahaufnahme, die Oberlippe verschwommen, in der Unterlippe spiegelt sich Licht im Lipgloss. „Zu viel Rot auf deinen Lippen“, möchte man Robert Smith zurufen, dem dieser verführerische Mund gehört. Vor genau 30 Jahren lockte er zum ersten Mal mit seinen Küssen, heute ist er so erotisch wie eh und je. Am 25. Mai 1987 erscheint „Kiss me, kiss me, kiss me“, das siebte Studioalbum von Smiths Band The Cure. Die wenigsten Kritiker würden es als ihr bestes einstufen – diese Position wird meist dem Nachfolger „Disintegration“ zugesprochen -, doch über Geschmack lässt sich streiten. Worüber sich nicht streiten lässt: Es ist das ambitionierteste, das vielfältigste, kurzum: das repräsentativste Werk der Briten.

Mit dem knapp 75-minütigen Doppel-Album setzt die Gruppe ihren bereits auf der Vorgängerplatte „The Head on the Door“ begonnenen Imagewandel fort: weg von einer Band für schwarzgewandete, Sartre-lesende Gothic-Nihilisten, hin zu einer Edel-Pop-Gruppe, die es auf ihren Alben nicht lassen kann, exzentrisch-schrullige Songs neben konventionelle Radio-Kost zu schmuggeln. So bekommt das Mainstream-Publikum zur Unterhaltung stets noch ein wenig Kunst als trojanisches Pferd untergejubelt.
So weit wie auf „Kiss me, kiss me, kiss me“ trieb The Cure dieses charmante Verwirrspiel niemals zuvor und auch niemals wieder danach. Dabei beginnt das Album doch typisch düster: Die ersten drei Minuten und 50 Sekunden gehören der schwelenden Wah-Wah-Gitarre, dem verloren durch den Raum perlenden Basslinien, einem simplen Schlagzeug-Groove, dann beginnt Robert Smith mit seinem Klagegesang: „Küss mich, küss mich, küss mich. Deine Zunge ist wie Gift. So angeschwollen, dass sie meinen Mund ausfüllt.“ Am Ende wünscht der Mann mit der ikonischen Struwwelpeter-Frisur seiner schmerzhaften Liebschaft nur noch: „Ich wünschte, du wärst tot, tot, tot, tot.“

So viel Weltschmerz gibt es in den insgesamt 17 Songs nur noch selten zu hören, etwa im Sitar-lastigen, psychedelischen „If only tonight we could sleep“, das eine verliebte Schwärmerei mit Untergangsfantasien mischt: „Und der Regen würde weinen, wenn unsere Gesichter dahinschwinden. Und der Regen würde weinen. Lass es nicht enden.“ Oder in „The Snake Pit“, in dem Smith zu einer Schlangenbeschwörer-Flöte und meditativ-monotoner Bandbegleitung raunt: „Ich krümme mich in der Schlangengrube.“

Nummern wie das – zumindest musikalisch – Urlaubsstimmung verbreitende „Catch“, der mit dicken Synthesizer-Bläsern ausgestattete Tanzflächenfüller „Why can’t I be you?“ oder das von Funk-Gitarren getragene, überschwänglich-sonnige „Hot, Hot, Hot!!!“ versprühen hingegen ungezügelte Lebensfreude. Jetzt gibt’s kunterbunte Knallbonbons statt kajalbewehrte Kulleraugen. In „Icing Sugar“ gibt es ein jazziges Saxofon und im Schlusstrack „Fight“ schwerfällig groovenden Wave-Rock auf die Ohren. Und mit der Single „Just Like Heaven“ hat das Album sogar eines der aufrichtigsten, eingängigsten und unkitschigsten Liebeslieder der Popgeschichte im Angebot: „Du, seltsam wie Engel, die in den tiefsten Meeren tanzen und sich im Wasser drehen, du bist wie ein Traum, genau wie ein Traum.“

„Kiss me, kiss me, kiss me” ist das “Weiße Album” von The Cure. 19 Jahre vor Robert Smith und seinen Kollegen hatten die Beatles auf ihrer selbstbetitelten Platte, die aufgrund ihres schlichten weißen Covers zu ihrem “Rufnamen” kam, ähnlich viele Stilrichtungen vermischt – und sicherten ihrem Album trotz seiner unsteten Manie, oder: gerade deshalb, einen Platz in der ewigen Ruhmeshalle der Popkultur. Ein solcher ist auch Robert Smith längst sicher. Kaum eine Indie-Band, die sich nicht auf seine fluffigen Gitarrenlinien und seinen romantischen Weltschmerz beruft. Kein Wunder: „Kiss me, kiss me, kiss me“ klingt auch nach 30 Jahren noch so zeitlos frisch wie am ersten Tag. Das Album ist so gut gealtert wie Robert Smiths Lippen auf dem Cover - und rote Lippen soll man küssen.