„Ihn aus sich herauszupressen brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete.“ Schon die Geburt verläuft dramatisch: Während seine Mutter in die Leichenhalle gebracht wird, legt man Wilbur in den Brutkasten. Er ist zu klein, zu leicht. Sein überforderter Vater verschwindet aus dem Besucherraum der Säuglingsstation. So wächst der Winzling in der Obhut von Krankenschwestern sowie in einem Kinderheim in Pennsylvania auf – bis ihn seine Großmutter Orla nach Irland holt.

Dort erfährt Wilbur erstmals, wie sich Glück anfühlt, was Heimat bedeutet. Doch nicht lange hält die Lebensfreude: Die Oma stirbt bei einem tragischen Unfall. Der beste Freund kommt ins Jugendgefängnis, er trägt eine Mitschuld an Orlas Tod. Der Großvater dämmert vor sich hin. Wilbur wird in eine bigotte Pflegefamilie gesteckt. Jetzt glaubt er nicht mehr daran, dass ihn jemals einer lieben könnte. Der Hochbegabte fühlt sich minderwertig, weil er so klein und mickrig ist, er schafft es nicht, sich selber anzunehmen. So entwickelt er Selbsthass, hat den Wunsch, nicht mehr zu leben. Wilbur denkt über den Tod nach, glaubt die geliebte Großmutter und die unbekannte Mutter warten im Himmel auf ihn. Mit dem gescheiterten Suizid des 20-jährigen Außenseiters beginnt der Roman „Nach Hause schwimmen“.

Es ist ein Buch voller Tragödien, das der Schweizer Autor Rolf Lappert im Vorjahr veröffentlicht hat: Wilbur verliert andauernd Menschen, die wichtig für ihn sind. Eine Geschichte zum Heulen – und trotzdem zum Lachen zugleich. Denn der 50-jährige Schriftsteller hat skurrile Einfälle, seine Hauptfigur ist ein eigenwilliger, aber charmanter Neurotiker. Intensiv erzählt wird der abenteuerliche Entwicklungsroman: mit viel Wortwitz, starken Bildern, feinen Beobachtungen und vor allem mit großer Fabulierlust.

Das Motto des Buches stammt aus Dantes „Inferno“ und ist durchgängiges Thema: „Kein größerer Schmerz ist denkbar, als sich im Unglück zu erinnern an die Zeiten des Glücks.“ Wilbur – in seiner Gegenwart total unglücklich – erinnert sich ständig an Momente des Glücks. Er muss lernen, die Vergangenheit als solche zu sehen, mit seinem Leben zurecht zu kommen. Dabei hat er immer wieder Helfer an seiner Seite. Doch diese müssen sich vorsehen, denn Wilbur – ein großer Fan von Bruce Willis, daher sind die einzelnen Kapitel nach Willis-Filmen benannt – mag es nicht, zu irgendetwas gezwungen zu werden.

Wilbur hat nach einem traumatischen Erlebnis große Furcht vor dem Wasser. Selbst beim Duschen hat er Angst zu ertrinken. Für Rolf Lappert, den in Irland lebenden Autor, ist das Schwimmen eine Metapher für das Leben: Das Leben in den Griff zu bekommen sowie die Hoffnung, irgendwo anzulangen. Und am Ende schafft es der schmächtige junge Mann, aus dem kalten Wasser wieder aufzutauchen. Aber bis dahin ist viel passiert. Zwei spannende Erzählstränge wechseln sich ab, der eine blickt auf das bisherige Leben des Melancholikers zurück, der andere – von Wilbur selber lakonisch und selbstironisch geschildert – zeigt die Gegenwart, bis sich beide Stränge treffen. Und es Wilbur endlich schafft: „Ich schwimme wie ein Hund, eher schlechter. Aber ich schwimme.“

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen. Hanser-Verlag, 544 Seiten, gebunden, 21,50 Euro.