Plauen – Bald wird es „wieder losgehen“, das Töten, ahnen sie in Lessings „Nathan“. Man muss nicht erst die Geschichte bemühen, nicht die allenfalls dem Namen nach christlichen Kreuzzüge des Mittelalters gegen Juden und Muslime; nicht einmal den Vernichtungsfeldzug rassereiner Nazideutscher gegen die Juden in Europa. Erst am Freitag legten auf dem Bauplatz einer Leipziger Moschee Unbekannte zum Hohn ein totes Schwein ab; vor ein paar Tagen brannte eine Flüchtlingsunterkunft in Bautzen, AfD und Pegida-Marschierer hetzen nach der Devise: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ … Wie sicher ist – und wie lange noch –, wer hierzulande fremd aussieht, anders spricht, an einen Gott mit falschem Namen glaubt? Falls es bald „losgehen“ sollte: mit welchem Grad von Gewalt?

Nicht nur Kinder, sagt sich Lessings Nathan, „speist man mit Märchen ab“. Den klugen Juden fordert Saladin, Moslem-Sultan im Jerusalem der Kreuzzugszeit, mit der Erkundigung heraus, welche Religion als einzig wahre gelten dürfe. Und Nathan antwortet mit der „Ringparabel“, jenem seither viel zitierten „Geschichtchen“, das jeden Glauben gleichermaßen rechtfertigt, eifert er nur einer „unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach“.

Nicht viel verlangt. Wenn sich nur jeder daran halten wollte, wär eigentlich alles halb so schlimm. Vielleicht darum hat Roland May die Versöhnungsutopie Gotthold Ephraim Lessings aus der politisch überkorrekten Inszenierungstradition eines deutschen Buß-Theaters „nach Auschwitz“ herausgeholt. Als utopisches Märchen brachte auch der Intendant „Nathan den Weisen“ auf die Bühne des Vogtlandtheaters, aber vorwiegend heiter. Ein szenisches Wolkenkuckucksheim: Vor dem leeren Dunst bloßer Fantasterei bewahrt es der zeitlos achtenswerte Appell zur Toleranz.

Scheinbar gibt es in Luisa Langes Szenenbild kaum mehr als ein „Geschichtchen“ zu sehen: Die weiße Eleganz eines modernen Wohn- oder Arbeitszimmers leuchtet in ihr; zwischen Stahlrohrmöbeln und Kühlschrank – für die reichlich genossenen Erfrischungsgetränke – bleibt viel Spielraum, in dem Regisseur May alle Schauplätze des Stücks verortet, so oft sie auch wechseln. Wer ahnungslos auf die Bühne sähe, könnte meinen, hier werde eine Boulevardkomödie aufgeführt. Wirklich fasst May den Ernst des Stücks, den er nicht verharmlost oder unterschlägt, mit den Mitteln des Lustspiels auf. Das Luftschloss, das Lessing selbst in seinem Schlussakt baute, rechtfertigt den Ansatz des Regisseurs: Am Ende sind Moslems, Juden, Christenmenschen nicht nur versöhnt, sondern mehrheitlich als Verwandte entlarvt – eine Welt-Familie. In Wohlgefallen löst sich die Verwicklung auf. So geht Lustspiel.

Gebührend flott, ohne hochgestochene Bedeutungsgründelei treten die Hauptfiguren an. Daniel Koch beschränkt sich auf die sympathische private Seite des Sultans Saladin und lässt ihn nicht, mag es auch bald „wieder losgehen“ im Glaubenskrieg, mit dem Säbel rasseln. Sittah, des Sultans Schwester, glitzert bei Else Hennig als durchtriebenes Luxusweibchen, doch nicht ohne Liebenswürdigkeit. Für Recha, Nathans Pflegetochter, besinnt sich Helene Aderhold auf vielleicht erst unlängst abgeschüttelte eigene Backfisch-Blauäugigkeit und offenbart doch schon ausbaufähiges Gefühl. Als Daja gibt die temperamentvolle Anja Schreiber durch aufgeschreckte Hurtigkeit einen Vorgeschmack auf das, was sie, in noch ferner Zukunft, als komische Alte leisten wird. Den Tölpel, der in keinem Lustspiel fehlt, stellt Leonhard Lange als Tempelherr, indes nicht ohne Freimut und Würde; schon gar nicht ohne durchtrainierte Männlichkeit: Wiederholt turnt er vor, wie so ein Christenkrieger den Athletenkörper fit erhält.

Umso geistvoller, nicht dürftig, aber schlank am Leib wie im Gang seiner Gedanken: Nathan. Bei Björn-Ole Blunck sieht er ganz und gar nicht nach altem Weisen aus. Denn lebenssatt und munter streift er alle Reste eines leidgeprüften Hiob von der vielfältig deutbaren Hauptrolle ab. Für einen Mann in den besten Jahren entscheidet sich der famose Schauspieler, für einen geschäftstüchtigen Unternehmer mit ehrbaren Prinzipien, reaktionsschnell, kaum einmal verzagt und auch dann nie um einen Ausweg, um klugen Rat oder schlaue Antwort verlegen. Pragmatisch geht er mit der zerrissenen Welt um, in der er, als jüdischer Erzieher eines Christenmädchens und Finanzier eines islamischen Regenten, den Spagat der Vernunft versucht. Der kann nur mit Humor gelingen, der bei Blunck in mancherlei Varianten blitzt: als Ironie, Witz, List, als Scharfsinn, immer wohlgemut.

Dieser Schauspieler hat nicht nur Nathan, er hat auch Lessing verstanden: als einen, der recht hat ohne Rechthaberei, als Meister einer Dialektik, die nie doziert, einer folgerichtigen Menschlichkeit, die zum Erfolg führt. Führen könnte: Das ist doch nicht zu viel verlangt – Bruch mit Vorurteilen, Nächstenliebe, Menschlichkeit. Das wird man wohl noch sagen dürfen.
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Nächste Vorstellungen: heute, Samstag, 19.30 Uhr, und am 23. März, 18 Uhr.