Von den klassischen Schreckgestalten der Erzählkunst erlangten mindestens vier ewiges Leben: der Golem – der tönerne Kunstmensch des jüdischen Volksglaubens – nebst seiner moderneren Spielart, dem zusammengeschusterten Monster des Doktor Frankenstein; ferner Graf Dracula, Urahn aller Vampire seither; der tüchtige Doktor Jekyll, der sich in den dämonischen Schurken Mister Hyde verwandelt; schließlich das Phantom der Oper, das einsam liebeshungrige Kellerwesen aus den Tiefgründen der Pariser Opéra Garnier. Über die dichterischen Gestalter fast all jener Scheusale – Gustav Meyrink und Mary Shelley, Bram Stoker und Robert Louis Stevenson – weiß die Literaturgeschichte viel zu berichten. Indes machte sich der letzte Unhold aus der Reihe, das furchtbar entstellte Opernphantom Erik, ein gefallener „Engel der Musik“, von seinem Erfinder derart unabhängig, dass man den fast ganz vergaß. Nicht wenige halten den Schöpfer der berühmtesten Musical-Version, Andrew Lloyd-Webber, dafür; die New Yorker Broadway-Premiere seines Erfolgsstücks jährte sich vorgestern zum zwanzigsten Mal. Millionen sahen es inzwischen weltweit. Viel weniger wissen um den Roman, der ihm zugrunde liegt, und um dessen Autor: Der Pariser Gaston Leroux, 1868 geboren, schrieb als zur Verschwendung neigender Lebemann weniger um der schönen Kunst als um des lieben Geldes willen; doch ließ er es dabei, kenntnisreich und weit gereist, an Fantasie nicht fehlen. Sein Erzähltalent als Sensationsjournalist kam auch seinen Romanen zugute und hier nicht allein dem 1910 erschienenen, mehrfach dramatisierten und verfilmten „Phantom“-Hit. Experten wissen dies Buch zu schätzen wegen seiner erzähltechnischen Finessen und der Ironie, mit der Leroux die Klischees der Kolportage bricht. Überdies achten sie den Autor (der 1927 in Nizza starb) als einen der Väter des Kriminalromans: In acht Büchern entwickelt sein Detektiv, der Reporter Rouletabille, den Ehrgeiz, die Kollegen aus den Werken der großen Vorbilder Poe und Conan Doyle an Brillanz zu überbieten.