Aus der Justizgeschichte des antiken Griechenlands wird der Fall der Edelprostituierten Phryne überliefert: Die soll sich zu der Behauptung verstiegen haben, nicht minder schön zu sein als die unvergleichliche Göttin Aphrodite - eine todeswürdige Lästerung. Indes blieb sie den Beweis nicht schuldig: Vor dem hohen Gericht öffnete sie weit ihr Cape und bot sich den Blicken der gestrengen Herren nackend dar. Die konnten nicht anders, als der Hetäre Recht zu geben: und sprachen sie frei.

Um 1917 hat Franz von Stuck die Sagenszene gemalt. Auf seiner Leinwand sieht vollendete Weiblichkeit recht knabenhaft aus: Schmal und rundungsarm ragt Phryne auf, in einer "Magerkeit", die (den Worten des Dichters Charles Baudelaire gemäß) den symbolistischen Künstlern als besonders faszinierende, männerverderbende Spielart der "Schamlosigkeit" galt. Blättert jedoch der Leser in Karin Sagners Buch über "Schöne Frauen" nur ein paar Seiten zurück, so stößt er aufs markante Gegenteil: auf Peter Paul Rubens' junge Ehehälfte Helene, die sich kokett bemüht, ihre bloßen, großen Brüste hinterm Arm zu verbergen. Gegen Ende des durch und durch anregenden Bandes findet sich ein im Jahr 2000 geschaffenes Gemälde Peter Breedens und darauf ein Paar ältlicher Damen: Ihre etwas aus der Form geratenen Leiber, von Badeanzügen zusammengehalten, frösteln im kühlen Blau eines Swimmingpools.

Ein Buch über "die gepflegte Frau in der Kunst": Als ungreifbares Phänomen macht die Autorin sie sichtbar. Denn "die Geschichte der Schönheit ist eine Geschichte des Wandels", formuliert die promovierte Kunsthistorikern gleich mit dem ersten Satz als These und führt eine Vielzahl exquisiter, teils auch amüsanter Belege an. Die als Zeugen aufgerufenen Meisterinnen und Meister - von Ghirlandaio (geboren 1449) bis Anthony Palumbo (Jahrgang 1980) - erweisen sich dabei als Beobachter so gründlich und tiefensichtig wie Ärzte, wenn auch weniger unvoreingenommen als sie. Vollweiblichen oder mädchenhaft zarten Wesen, fürstlichen Damen, für ein Porträt in aufrechter Würde erstarrt, und entspannteren, weil leichten Mädchen sahen die Maler zu, beim Ankleiden und Ausziehen, im Bad, vorm und im Bett, bei der Zahn-, Haut- und Intimpflege. Zwischen Natur und Kunst, Alltagsleben und ausgeklügelten ästhetischen Theorien, zwischen Körper und Kosmetik, zwischen dem unerreichbaren Idealmaß des Weiblichen und der unüberschaubaren Variationsbreite seiner Manifestationen stellt die Autorin Bezüge her, in ihren Kapiteleinführungen sowohl wie in den kurzen, treffenden Deutungen der Bilder.

Die mannigfach offenbarte Sinnlichkeit, erst recht die teilweise oder völlige Nacktheit der dargestellten Damen macht den Betrachter zum Voyeur, freilich zu einem ohne Schuldgefühl. Ironisch erstattet Mel Ramos dem Blick ins Privatissimum die Heimlichkeit zurück: Auf seinem "Peekaboo Marilyn I" von 2002 schaut man wie ein Schnüffler durch ein großes Schlüsselloch auf Marilyn Monroe im Evaskostüm. Doch die Lachende weiß, dass man sie ausspäht. Voyeurismus interaktiv: Sie schaut zurück. Michael Thumser

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Karin Sagner: Schöne Frauen. Elisabeth-Sandmann-Verlag, 160 Seiten, gebunden, 24,95 Euro.