Auch wenn's die Katholiken gerne glauben: Das "Turiner Grabtuch" zeigt kein Abbild des gekreuzigten Jesus - das ergab endgültig die seriöse Datierung des geheimnisvollen Textils mittels der Radiokarbonmethode. 1988 stellte sich heraus, dass das Gewebe wohl erst Anfang des 14. Jahrhunderts entstand. Gleichwohl verehren es viele als Reliquie - scheint es doch dem nach Anschauung begehrenden Verstand die würdevollen Züge des bärtigen Heilands authentisch zu vermitteln. Wahrscheinlich haben die Künstler der vergangenen 2000 Jahre kein Gesicht öfter dargestellt als das Jesu Christi, auf Fresken, Tafelbildern, Holzkruzifixen, Steinreliefs ... ; und allerdings kann niemand wissen, wie er wirklich aussah. 2008 zog Ben Willikens die radikale Konsequenz: Vom weltberühmten Abendmahl, das Leonardo da Vinci 1498 auf einer Wand des Mailänder Klosters Santa Maria delle Grazie vollendete, übernahm er für sein eigenes Großformat "Abendmahl IV" Raumkonzept, Tisch und Lichtführung - aber Jesus und die Jünger ließ er weg. Graue Leere: Auch sie gibt Antwort auf die Frage, "wie Künstler Christus sehen". Auskünfte darüber erteilt seit Kurzem die Ausstellung "Jesus 2.0" in Braunschweig. Sie präsentiert - aus der Sammlung Jochen Prüsse - Darstellungen von 37 Künstlern dieses und des vergangenen Jahrhunderts. Erwartungsgemäß zeigt sich darin eine Umkehrung jahrtausendealter Werte. Die Variationen reichen von der frommen Annäherung des Juden Marc Chagall über eine gekreuzigte Ratte von Günter Grass ("Golgatha") bis zu einer Karikatur des Charlie Hebdo-Opfers Tegnous: Neben anderen krebsroten Sonnenbadern am Strand liegend, bittet der Gekreuzigte: "Kann mich jemand umdrehen?" Kein Wunder, dass Leihgeber Prüsse Drohanrufe erhält: Wo Blasphemie das Haupt hebt, blecken Fundamentalisten die Zähne. Indes gilt: Jede Satire, die auf sich hält, beginnt mit einem Sakrileg. Auch den Messias dürfen Spötter und Ironiker für satirefähig halten. Als ein zu Tode gemartertes Folteropfer ist er's freilich nicht.
Kunst und Kultur Mit Jesus und ohne
Von Michael Thumser 28.09.2015 - 00:00 Uhr