Er schonte die empfindlichen Nervenkostüme der feinen Gesellschaft nicht – und ebenso wenig sich. Auf einem seiner Selbstbildnisse präsentiert sich Lovis Corinth als aufgeschwemmter Prolet mit ungepflegtem Seehundschnauzer neben einem Skelett, das ihm über die Schulter schaut: „Memento mori“ – bedenke, dass du sterben musst. Drastisches lag ihm überhaupt, Schlachthausszenen etwa, glattes Fleisch in all seiner unvermeidlichen Blutigkeit. Geboren wurde der Maler, der nicht anstand, Skandal zu erregen und durchaus Gewinn daraus zog, heute vor 150 Jahren im ostpreußischen Tapiau. Mächtig protzte er als Vitalist; zugleich aber verwandelte er sich ingeniös die Stile seiner Epoche an und gab sie, fortentwickelt, an spätere Maler weiter, bis heute. Aus der Münchner Schule der akribisch-vornehmen Historienmalerei kam er; und konterkarierte sie: Seine „Salome“ von 1899 (gegenwärtig Schmuckstück einer großen Retrospektive in Leipzig) tritt nicht mehr in verheimlichtem Jungmädchen-Begehren auf, sondern aufgeschminkt als kaltschnäuzig erfahrene Kurtisane, die dem abgeschlagenen Haupt des Johannes die blanken Brüste vor Augen führt. In Berlin machte er mit dem Bild weit mehr Furore als im zugeknöpfteren Bayern. Bei der Themenwahl blieb der Künstler, der sich dem Impressionismus zurechnen lässt, dem Herkommen treu: so der Porträtkunst – wie im sachlich einfühlenden Bildnis des sensiblen, aber hässlichen Erzählers Eduard von Keyserling –, der Landschaft, den biblischen Sujets. Ein prophetisches Christus-Bild entstand zu Ostern 1925, drei Monate vor dem Tod des entkräfteten Malers (der sich von einem 1911 erlittenen Schlaganfall nie recht erholte): Da steht der Todgeweihte, gefoltert, gleichwohl im roten Königsgewand, zwischen einem prallen Ritter und Pilatus, einem Weißkittel, der wie ein KZ-Arzt anmutet. Seht her, ein Mensch: „Ecce homo“ heißt das Gemälde, das nichts mehr zu erkennen gibt von Lovis Corinths libidinösem Appetit auf Fleisch: Längst war’s ihm um den „inneren Menschen“ zu tun.