„Literaturwissenschaftler sind die besten Detektive“, sagt Maud Bailey, und sie muss es wissen. In „Besessen“, dem Erfolgsroman der englischen Schriftstellerin Antonia S. Byatt (Jahrgang 1936), ist sie mit ihrem Kollegen, dem Literaturwissenschaftler Roland Michell, einem Geheimnis auf der Spur, das immerhin gut 100 Jahre vor aller Welt verborgen war.

Roland ist durch einen Zufallsfund in den Besitz eines unbekannten Dokuments gekommen: den Entwurf eines Briefes, den der berühmte viktorianische Dichter Randolph Henry Ash an eine „Hochverehrte Dame“ schreiben wollte. Roland stellt heimlich Nachforschungen an und findet heraus, dass es sich um die exzentrische Dichterin Christabel LaMotte handeln muss. Er weiht die LaMotte-Spezialistin Maud Bailey ein, und gemeinsam entdecken sie im Sterbezimmer der Lyrikerin ein Bündel Briefe, die beweisen, dass Ash, der vorbildliche Ehemann, und die alte Jungfer LaMotte eine leidenschaftliche Beziehung hatten.

Doch nicht nur Roland und Maud, zwischen denen sich allmählich eine Liebesgeschichte entwickelt, sind dem Geheimnis auf der Spur. Sie haben alle Hände voll zu tun, das Misstrauen derer zu beschwichtigen, die sich ebenfalls für den Briefwechsel zu interessieren beginnen: Rolands Doktorvater Blackadder, Mauds Freundin, die Feministin Leonora Stern, der amerikanische Ash-Biograph Mortimer Cropper und Hildebrand Ash, der letzte Nachfahre des Dichters, der für Geld zu allem bereit ist. In einer stürmischen Nacht kommt es schließlich am Grab Ashs zur dramatischen Konfrontation aller Beteiligten.

Die Detektiv-Geschichte im literarisch-historischen Milieu allein wäre schon spannend genug, um aus dem Stoff einen guten Roman zu machen, denn er spielt sich auf zwei Zeitebenen ab: Im Heute, zwischen Roland und Maud, und im 19. Jahrhundert zwischen Randolph Henry Ash und Christabel LaMotte. Der Leser verfolgt die Entwicklung beider (Liebes-)Geschichten; dargestellt mit unterschiedlichen literarischen Mitteln.

Die moderne Geschichte wird in oft harter, unsentimentaler Sprache erzählt, die viel über die von ihrer Entdeckung „besessenen“ Wissenschaftler aussagt: Beides sind innerlich vereinsamt, ja vereist und nähern sich einander nur allmählich an, nachdem sie sich als Gleiche erkannt haben.

Die Affäre zwischen den fiktiven Dichtern Ash und LaMotte erlebt man durch den Briefwechsel der beiden, über Tagebucheinträge, teils seitenlange Gedichte und andere Schriftstücke – die Kommunikationsmittel der sogenannten feinen Gesellschaft im England des 19. Jahrhunderts eben.

Doch mit der Spurensuche allein gibt sich Antonia Byatt in ihrer Geschichte, die 1990 mit dem Booker-Price ausgezeichnet wurde, nicht zufrieden. Ihr Buch weist auch Elemente der englischen Schauerromantik auf und entlarvt als Persiflage auf amüsante Weise bestimmte Auswüchse des akademischen Betriebs; es zeigt, wie skrupellos manche „Wissenschaftler“ vorgehen, um einen Fund exklusiv nutzen zu können.

„Besessen“ wurde 2002 von Neil LaBute in einer ansprechenden Version mit Gwyneth Paltrow (Maud), Aaron Eckhart (Roland), Jennifer Ehle (Christabel) und Jeremy Northam (Ash) unter dem Titel „Possession“ verfilmt.

Antonia S. Byatt: Besessen. Suhrkamp, 640 Seiten, broschiert, 11 Euro.