Im Eis können die Menschen ihr Inneres erkennen: der Hartherzige im fest Gefrorenen die Kälte seines Gefühls; der Kompromisslose im Erstarrten seine Unnachgiebigkeit; der Wankelmütige im Schmelzwasser seine Labilität; der Weichherzige in den Tropfen die Tränen seiner Sentimentalität. Wasser ist Urstoff: Aus ihm kommt das Leben an sich. Wie die heilige Trinität tritt es in dreierlei Gestalt auf - als luftleichtes Gas, als Flüssigkeit und Feststoff - und bedeckt, von Dunst und Wolken in der Atmosphäre abgesehen, die Erdoberfläche zu über zwei Dritteln. Lediglich 2,6 Prozent davon sind in Eis und Schnee gebunden - und der Anteil verringert sich zusehends. Was unter dem Eis liegt, gilt in der chinesischen Philosophie als yin, weiblich; als männlich, yang, was darüber anzutreffen ist. Über dem Eis lag am 19. September 1991 um 13.30 Uhr ein Mann, den das Nürnberger Ehepaar Simon in den Ötztaler Alpen, 3210 Meter hoch im Tisenjoch, zufällig aufspürte: Binnen weniger Tage war der tote Gletschergänger, den der Klimawandel buchstäblich aufzutauchen zwang, als "Ötzi" weltberühmt. Öffentlich beschaubar, doch wohlverwahrt liegt er längst in einer Kühlzelle des Südtiroler Archäologiemuseums in Bozen. Gut 5000 Jahre hat der gewaltsam gestorbene Krieger auf dem ledrig-ausgemergelten Buckel. "Ötzi" - ein "Glücksfund"? Jüngeren Datums sind die Exponate, die das Museum seit Kurzem für ein Jahr ausstellt: Messer, ein Holzbogen, wärmende Textilien, alte Steigeisen ... "Frozen Stories", eingefrorene Geschichten, erzählen die teils erst unlängst gesicherten Schaustücke, deren Entdeckung sich einer globalen Katastrophe, der Erderwärmung und damit dem Zurückweichen der Gletscher, verdankt. Durch das, was das Eis notgedrungen freigibt, will das Museum eigener Bekundung zufolge "das Phänomen Gletscher fassbar" machen - just in dem Augenblick, in dem es zergeht, den Menschen in den Händen zu Wasser zerrinnt, sich für immer auflöst in Luft.