Sogenannte wahre Geschichten stellen in der Romanliteratur gar keine Seltenheit dar. Manche Bücher, deren Inhalt auf tatsächlichen Begebenheiten beruht, waren so populär, dass sie Bestseller wurden - man denke an den Roman "Die Asche meiner Mutter", in dem der Ire Frank McCourt von seiner Kindheit und Jugend erzählt, oder an Truman Capotes Thriller "Kaltblütig" über den grauenhaften Mord an einer vierköpfigen Farmerfamilie. Aber gibt es auch wahre Gedichte? Es gibt sie. Ernest Wichner trug ein solches bei seiner Hofer Lesung - siehe Bericht auf dieser Seite - in der Galerie im Theresienstein vor. Es gehört zum Zyklus "Übers Dorf", der in dem 2003 erschienenen Gedichtband "Rückseite der Gesten" abgedruckt ist. Mit dem Dorf sind kleine Siedlungen in Rumänien gemeint, ähnlich Gutenbrunn im Banat, wo Wichner geboren wurde. Der Vorgang, auf den das wahre Gedicht Bezug nimmt, wurde dem Autor von seinem österreichischen Kollegen Gerhard Roth, einem sehr bekannten Romanschriftsteller, mitgeteilt. Die Hauptrolle in der merkwürdigen Geschichte spielt ein Pfarrer: Nachdem er beschlossen hatte, seine Gemeinde zu verlassen, traf er fürs Seelenheil der Bewohner insofern Vorsorge, als er für jeden Einzelnen - insgesamt waren es siebzehn - einen Sarg zimmern und in der Kirche abstellen ließ, wo die Särge dann nach einem Todesfall entdeckt wurden. Das ist so seltsam und gespenstisch, dass es nach lyrisch-poetischer Aufbereitung geradezu verlangt. Ernest Wichners Gedicht aus dem "Dorf"-Zyklus umfasst in der Buchausgabe nicht mehr als fünfeinhalb Zeilen. Sie seien hier abgeschrieben: "der pfarrer aber als er ging hatte seine gemeinde abgezählt nach seelen wie er's gewohnt war und die kirche verschlossen der schlüssel als er ging blieb auf dem tisch der sakristei wo er gefunden wurde von der schwester des toten als er gegangen die aufschloss und nachzählte die siebzehn särge schwarz im mittelgang des schiffs."