Marlesreuth/Helmbrechts - "Im Morgengrauen eines längst vergangenen Wintertages wird Dorota Tajfel erfahren, dass Pech Glück bedeuten kann." Mit diesem ersten, Hoffnung machenden Satz beginnt Rainer Ihde seinen neuen Roman "Albtraum", der große Themen der Gegenwart behandelt: den Verlust von Heimat, die Zerstörung der Natur oder das Gefühl der Hilflosigkeit in einer globalisierten Welt. Aber der Autor schaut auch zurück. Macht klar, dass es ein Heute nie ohne ein Gestern gibt - dass beides untrennbar miteinander verbunden ist.

Februar 1945: Im Helmbrechtser Außenlager des KZs Flossenbürg befinden sich knapp 700 Häftlinge. Alles Frauen. Viele stammen aus Polen oder Russland. Schon jetzt haben sie einen langen Leidensweg hinter sich, nicht ahnend, dass die Zukunft noch Schlimmeres für sie bereithält. Am Morgen des 25. Februar fehlen drei Häftlinge. Der russischen Lagerärztin Alexandra Samojlenko und zwei weiteren Frauen, von denen später nur die Vornamen Anja und Luwa bekannt werden, ist die Flucht gelungen. SS-Unterscharführer Alois Dörr, der brutale und gefürchtete Lagerkommandant, jagt ihnen mit seinen Schergen und Hunden persönlich nach. Zweier wird er habhaft, eine davon ist die Ärztin, die in der Nacht darauf an den Folgen brutaler Misshandlungen durch die Wachmannschaft ihr Leben lässt.

Anja entkommt. Was aus ihr wird, ist bis heute ungeklärt. Rainer Ihde verknüpft nicht nur an dieser Stelle Realität und Fiktion, gibt ihr den Namen Dorota, macht sie zu einer Figur seines Romans und zur Mutter eines Mannes, der Nutznießer des NS-Regimes und zum Symbol dafür wird, dass die Vergangenheit irgendwann jeden einholt.

Ihde hat mit dem Roman kein Neuland betreten. Der heute 69-Jährige begann schon in jungen Jahren zu schreiben - Theaterstücke und Erzählungen, Musicals und Gedichte. Und er macht Musik. In seiner Heimat Niedersachsen wetteiferte er als Schlagzeuger bei einem Festival als 14-Jähriger mit seiner Band Thunderbirds mit einer damals noch völlig unbekannten Gruppe namens "Scorpions". "Wir wurden Zweiter. Aber nicht hinter, sondern vor den Scorpions", erinnert er sich und muss herzlich lachen.

Denn während die Scorpions später zu Weltruhm gelangen, wird Ihde Lehrer. Immerhin, er erkämpft sich auch hier Freiraum. "Als ich Narrenfreiheit hatte, war das eine wunderbare Zeit als Lehrer." Ob in seiner alten Heimat Niedersachsen, später in München oder von 2003 an der Hofer Münsterschule - das Theater und damit die kreative Seite der Kinder spielt beim ihm eine große Rolle.

Mittlerweile ist Ihde offiziell Ruheständler. Ein Begriff, der zu ihm gar nicht passt. "Das bezieht sich nur auf meinen Lehrerberuf. Ein Leben auf der faulen Haut kann ich mir nicht vorstellen", sagt er. Ihde engagiert sich als Stadtrat in Naila für die Freien Wähler, malt, komponiert (zum Beispiel das Marlesreuth-Lied zur 650-Jahr-Feier des Ortes), und er schreibt. "Weil ich muss, nicht nur, weil ich will." Balladen zum Thema "Liebe, Lust und andere Leiden" zum Beispiel, die er dann bei gemeinsamen Auftritten mit zwei befreundeten Musikern auf Bühnen in der Region vorträgt.

Und der Roman ? "Während der Entstehung habe ich mich 24 Stunden am Tag damit beschäftigt." Impulse, Assoziationen, Ideen - überall lagen zu Hause kleine Zettel, die der Autor selbst manchmal nicht mehr überschaute. In "Albtraum" sind daraus fast 450 Seiten geworden. Alles kulminiert in Haueisen, einem Ortsteil von Schauenstein, der in der Vergangenheit in die Schlagzeilen geriet, als Einheimische gegen Windräder in einem geschützten Gebiet protestierten. Darüber hinaus ist Haueisen im Volksmund als "Paradies" bekannt und damit gewissermaßen das Gegenstück zum Titel des Romans.

Der Name "Albtraum" geht auf ein fiktives Gemälde zurück, dass Ihde dem berühmten Maler Edward Munch zuschreibt. Das Werk, man ahnt es früh, ist Teil der Nazi-Raubkunst und weckt Begehrlichkeiten. Alle jagen den Munch, einige sind getrieben von Habgier, die Ihde "eine tödliche Gefahren für die Menschheit" nennt, "weil sie das Mitmenschliche vergisst". Ihr gegenüber steht das ehrliche, aber oft hilflose Begehren des Johannes Scharf, eines ehemaligen Pfarrers. Er ist die Hauptfigur des Romans. Ein Suchender, der sich immer an anderen orientiert hat und der nun damit beginnt, seinen eigenen Weg zu finden. Ganz so wie einst sein Erfinder, als dieser 1969 zum Bundesgrenzschutz kam. Dort drückten sie ihm einen alten Wehrmachts-Stahlhelm sowie ein Maschinengewehr mit eingeritztem Hakenkreuz in die Hand. Für die Vorgesetzten kein Grund für Aufhebens, für den jungen Künstler freilich ein kleiner Schock, aus dem recht schnell die Gewissheit wuchs, "dass dieses Leben meinen Neigungen sicher nicht gerecht wird".

Nach Marlesreuth hat ihn vor 16 Jahren die Liebe verschlagen. Die Station ist bis heute die letzte in einer langen Reihe von Umzügen und unterschiedlichen Lebensmittelpunkten. Spielt deshalb die Liebe zur Heimat in der Geschichte eine bedeutende Rolle? Ihde nippt an seinem Milchkaffee. Dann spricht er von den Menschen in aller Welt, die das Gefühl hätten, Heimat und Identität zu verlieren, und beklagt die Folgen wie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Für sich selbst kommt er zu einem ganz anderem Schluss: "Ich sehe Heimat distanziert." Für ihn sei nicht der Ort entscheidend, an dem er lebt, "für mich ist Heimat Herzenssache oder, wie Cicero sagte: Ubi scribo, ibi patria.’" Wo ich schreibe, dort bin ich zu Hause.

Aktuell sucht der 69-Jährige einen Verlag für seinen Roman. Das hält ihn aber nicht davon ab, bereits an der Fortsetzung zu arbeiten. Sieben Bände sollen es am Ende werden. Angelehnt an die sieben Todsünden. Die Habgier ist nur der Anfang.

Zur Person

Der in Hildesheim in Niedersachsen aufgewachsene Rainer Ihde hat Mitte der 1980er-Jahre begonnen, Jugendtheaterstücke zu schreiben. Später veröffentlichte er die Romane "Die Sprachlosen" und "Mandorla" sowie mehrere Erzählungen. Auch Theaterstücke, Musicals und Gedichte stammen aus seiner Fehde. Der heute 69-Jährige lebt seit 16 Jahren mit seiner Frau Barbara in deren Heimatort Marlesreuth.