Die Welt, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ist ein "Vulkan". Aber die Menschen in Berlin tanzen auf ihm. In die "Hauptstadt des Lasters" verwandelte sich im Sommer 2015 das biedere Wunsiedel, genauer: die Luisenburg. Dort ging "Cabaret" als Hurenparade über die Naturbühne: Junge Damen, mit wenig mehr als nichts auf der knackigen Haut, brüsteten sich mit reichlich Oberweite, Strichjungen mit Unterleib. Ohnehin ist dies Musical ein heißes Stück Theater; die Luisenburg-Premiere taxierte Intendant Michael Lerchenberg obendrein als "die wärmste der Festspielgeschichte". In die Geschichte der Gattung ging das Meisterwerk von John Kander (Musik), Joe Masteroff (Buch) und Fred Ebb (Songtexte) mit der New Yorker Uraufführung am Sonntag vor fünfzig Jahren ein. Ein Hexenkessel der Lüste, doch ohne Happy End: Autobiografischen Romanen des Briten Christopher Isherwood folgend, spielt sich die Handlung zwischen 1929 und 1932 im lebensungeduldig sich überhitzenden Berlin ab - im Nachtleben vor allem. In einem Club lernt Clifford, Alter Ego des Autors, Dirnen und Deutschnationale, proletarische Jasager und vertrauensselige Juden kennen; und er verliebt sich in Sally, die lavaglühende Chanteuse. Sie schenkt ihm ihr liebes, aber labiles Herz; freilich verliert Clifford sie, als er den bunten, flatterhaften Vogel für immer an sich binden und nach seinem Willen formen will. "Keiner weiß: Wie geht's hier weiter?", sorgt sich seine altjüngferliche Zimmerwirtin "Fräulein" Schneider - und definiert damit volkstümlich, was man unter Krise versteht. Was nun? Eine Frage, die man sich in jedem Jahr aufs Neue stellt, zumal im kommenden. An Zeit-Zerrbilder von Grosz und Dix gemahnend, stellte das Schlussbild auf der Luisenburg die Zukunft der glitzernden Welt ernüchternd infrage. Auf der Naturbühne spuckte der "Vulkan" zwei Stunden lang kurzweilig Feuer. In der schlimmen Wirklichkeit flog er, 1939, in Stücke.