Überall fehlen Betreuer: Mit 21 Jahren, da fängt kein Leben an

Der Weg ins selbstbestimmte Dasein sollte für junge Behinderte wie Lorenz Ries nicht mit einer Rolle rückwärts ins Elternhaus enden müssen, findet­ seine Mutter. Deshalb hält Anke Fähnrich einen Kurswechsel in der Pflege für überfällig. Foto: pr

Weil die Zahl der Pflegekräfte sinkt, bleiben junge Behinderte im Fichtelgebirge und im Frankenwald oft auf der Strecke. Anke Fähnrich, Mutter eines blinden Sohnes, warnt: „Es brennt – wir steuern auf eine Katastrophe zu.“

 
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Redegewandt und charmant: So kennt man Anke Fähnrich. Was auch immer kundgetan oder moderiert werden muss – die Radiofachfrau, früher Euroherz-Chefin und Redaktionsleiterin des Hofer Funkhauses, bringt es locker und verständlich an den Mann oder die Frau. 2018 hat sie beruflich die Seiten und den Landkreis gewechselt: Als Medienreferentin im Wunsiedler Landratsamt poliert sie seitdem das Image des Fichtelgebirges gehörig auf – auch außerhalb der Kampagne „Freiraum für Macher“.

„Liebe allein reicht nicht“, weiß Lorenz’ Mutter Anke Fähnrich. Foto: pr

Wie viele Medienprofis schirmt Anke Fähnrich ihr Privatleben bisher weitgehend ab. Bis sie plötzlich ihren blinden, mehrfachbeeinträchtigten und autistischen Sohn Lorenz in den Fokus rückt. Warum erzählt die 50-Jährige, die in Feilitzsch wohnt, unserer Redaktion jetzt von den vielen Steinen, die ihren Sohn und sie auf ihrem Weg durchs Leben belasten?

Fehlt Förderung, droht Überforderung

Aus mehreren Gründen: Aufgrund des Pflegedesasters wachsen die Schwierigkeiten, mit denen Behinderte kämpfen müssen. „Ich habe Angst: Wo soll das noch hinführen?“, sagt Fähnrich. Auch ihr Sohn Lorenz Ries muss nun im Alter von 21 Jahren das Blindeninstitut in Regensburg verlassen, in dem der Marktredwitzer seit seinem siebten Lebensjahr lernt, lacht und wohnt. Viele Behinderte fänden inzwischen keine Einrichtung mehr, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, weiß Fähnrich. Für ihre Interessen kämpft die Medienfrau, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen, während die Zahl der Mehrfachbehinderten steigt. Denn Frühchen mit Beeinträchtigungen schaffen es heute öfter ins Leben als früher. Während also der Bedarf steigt, reduziert sich gleichzeitig die Zahl der Fachkräfte, die sich um Behinderte kümmern. Tragisch ist das sowohl für die Betroffnen als auch für ihre Familien: Den einen fehlt es an Förderung, die anderen sind überfordert.

Ankämpfen gegen Vorurteile

Weil sie als Mutter von „du schiebt deinen Jungen ab“ bis „das ist aber egoistisch“ alle Vorurteile und Fehleinschätzungen kennt, die Eltern behinderter Kinder verunsichern, will Fähnrich andere Betroffene auch ermutigen, ihrem Nachwuchs ebenfalls bestmöglich helfen zu lassen. Und keinesfalls aufzugeben, falls neue Fallstricke auftauchen.

Loszulassen kostet „Riesen-Überwindung“

Klar kostete es eine Riesen-Überwindung, Lorenz schon mit sieben Jahren in dem Blindeninstitut in Regensburg zu lassen und ihn nur am Wochenende zu holen oder zu besuchen, räumt Fähnrich ein. Doch ihr Sohn wäre nie zu der Persönlichkeit herangereift, die er heute sei, ohne diese spezifische Profi-Förderung– angefangen von der Fähigkeit, sich als Blinder zurechtzufinden, bis hin zur mentalen und psychologischen Reife. „Liebe allein reicht nicht – es wäre egoistisch gewesen, ihn zu Hause zu behalten und seiner Entwicklung im Weg zu stehen. Ich bin unfassbar stolz darauf, dass er so gut seinen Weg geht“, sagt seine Mutter. Ihr Sohn nenne das Blindeninstitut, in dem rund 100 Betroffene leben, seine „zweite Familie“.

Kein Vorwurf an die Einrichtung

Im Sommer sollte der 21-Jährige in den Erwachsenenbereich der Einrichtung wechseln. Klappt aber nicht: Aufnahmestopp wegen Personalmangels. Wie Lorenz sind zehn weitere Gleichaltrige betroffen. „Ich bin mir völlig sicher: Diese Entscheidung wurde mit schwerem Herzen und nach reiflichen Überlegungen getroffen“, sagt die Mutter. Denn die Institutsleitung wie das gesamte Team genössen ihr vollstes Vertrauen.

„Blindi hat mich sofort überzeugt“

Weil es in Oberfranken leider keine passende Unterbringungsmöglichkeit für Blinde gab, entschied sich Fähnrich bei Lorenz’ Einschulung bewusst für den Standort Regensburg. „Das Blindi hat mich sofort überzeugt.“ Hier sei ihr Sohn professionell und liebevoll untergebracht – aber leider nicht so langfristig wie geplant.

Sohn nennt Einrichtung sein Zuhause

Lorenz nenne die Einrichtung sein Zuhause. „Das sagt viel über seine Gemütslage aus“, findet seine Mutter. Als Autist ertrage er Veränderungen sehr schwer. Ihn nach vielen Jahren jetzt dort herausreißen zu müssen, hält Fähnrich für „maximal verstörend“. Doch es kam noch schlimmer, denn ein ernüchternder Telefon-Marathon zeigte: Andere Einrichtungen nehmen vollblinde Menschen wie Lorenz nicht auf.

Verzweifelt wandte sich die Mutter an alle möglichen Instanzen, auch an den bayrischen Blindenbund. Zufällig erfuhr Fähnrich im Zuge ihrer unermüdlichen Recherchen, dass in Kitzingen eine neue Einrichtung öffne. Lorenz erfüllt alle Kriterien und bekam einen der raren Plätze.

Zehn Gleichaltrige gehen leer aus

Dennoch macht sich Anke Fähnrich weiterhin stark für die Mehrzahl aller Betroffenen, die leer ausgehen – darunter die zehn Gleichaltrigen aus Lorenz’ Institut. Kein weiterer Bewohner, der wegen des Fachkräftemangels ebenfalls Regensburg verlassen muss, ergatterte einen Platz, weiß die Mutter, die ein Umdenken in der Pflege für längst überfällig hält: „Es muss sich wirklich etwas ändern.“ Ohne außergewöhnliche Anstrengungen der Arbeitgeber und aller Interessensvertreter lasse sich das Ruder kaum noch herumzureißen.

„Es geht um das Lebensglück“

Gelinge der Kurswechsel nicht, seien die Betroffenen und ihre Familien die Leidtragenden. Denn dann müssten blinde, junge Erwachsene, die über Jahre ihren Weg in ein eigenes Leben fanden, in ihre Familien zurückkehren. Allerdings könnten Angehörige die Betreuung unmöglich so leisten, dass es den Betroffenen gerecht werde, verdeutlicht Anke Fähnrich. „Es geht um das Selbstwertgefühl und das Lebensglück dieser jungen Menschen, die unfreiwillig in diese Situation gedrängt werden und dadurch nur Rückschritte machen.“

Blindenbund drängt auf Kurswechsel

Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen fänden zu wenig geeignete Fachkräfte und Plätze: Das kritisiert der Bayrische Blinden- und Sehbehindertenbund. Für die längst überfällige Kehrtwende müssten die Rahmenbedingungen in der Alten- und Behindertenhilfe endlich verbessert werden, heißt es in einer Resolution. Diese enthält einen Forderungskatalog, mit dem die Interessensvertreter Druck auf die Politik machen wollen.

„Zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe in Deutschland brauchen wir dringend und zeitnah einen deutlichen Kurswechsel in der Gesundheits-, Pflege- und Sozialpolitik“, heißt es in der Resolution. Der Bayrische Blinden- und Sehbehindertenbund fordert deshalb:

Auf bayerischer und Bundesebene müsse eine Kampagne gestartet werden, die helfende Berufe in ihrer Sinnhaftigkeit bewirbt und die Attraktivität dieser Berufe beschreibt.

Zeitarbeit in der Sozialbranche solle untersagt werden, weil sie die Arbeitsatmosphäre vergifte und immens viel Geld koste, das dann der Regelversorgung fehle.

Damit so viel Ressourcen wie möglich in der direkten Begleitung der Menschen ankommen, solle Bürokratie abgebaut werden.

Daseinsfürsorge vor Wirtschaftlichkeit: Behinderten- und Altenhilfeeinrichtungen bräuchten eine ausreichende Finanzierung.

Um behinderungsspezifische Belange zu berücksichtigen, müssten ausreichende und geeignete Plätze in der Altenhilfe sowie für das gemeinschaftliche Wohnen von Menschen mit Beeinträchtigung geschaffen werden.

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