Ukraine-Tagebuch „Das Fluss-Ufer ist vermint“

Thomas Simmler mit Tochter Sofia und deren Mutter Irina. Foto: red/Thomas Neumann

Thomas Simmler stammt aus Mainleus. Seit Kriegsbeginn hält er sich bei seiner neunjährigen Tochter Sofia und deren Mutter Irina in der Südost-Ukraine auf. In der Frankenpost erzählt er regelmäßig aus seinem Leben im Kriegsgebiet.

 
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Als ich in dieser Woche eines Abends im Bad das Fenster geöffnet habe, ging es los. Ich hörte, wie jemand mit seiner Kalaschnikow los feuerte. Da erschrickt man schon, auch wenn wir die ständigen Luftalarme gewohnt sind. Was genau passiert ist, konnte mir keiner sagen. Vermutlich hat die Stadtwache auf jemanden geschossen.

Wir wissen, dass die Russen nicht nur mit ihrer Armee gegen uns kämpfen, sondern auch versuchen, die örtlichen Strukturen mit ihren Leuten zu unterwandern oder Sabotageakte auszuüben. Vielleicht hatte es damit zu tun. Niemand weiß es.

An Wochenende oder am Feiertag war es vor dem Krieg üblich, am Dnjepr spazieren zu gehen. Das ist nicht mehr möglich. Man kommt gar nicht hin, weil die Stadtwache das verhindert. Aus Schutz, denn die hiesige Seite des mehrere Kilometer breiten Flusses haben die Ukrainer vermint. Auf der anderen Seite stehen russische Truppen. Das Atomkraftwerk steht unter ihrer Kontrolle. Es läuft offenbar auf minimaler Leistung, weil eine Hochspannungsleitung beschädigt ist.

Nicht viel anders sieht es bei den Getreidefeldern ganz in der Nähe aus. Dort lassen Stadtwache oder Militär außer den Landwirten niemand hin. Bis jetzt ist die Ernte – anders als im Osten des Landes – nicht in Gefahr. Die Felder sind unvorstellbar groß. Hier werden Getreide, Raps, Sonnenblumen und alles mögliche angebaut.

Ob die Russen den Boden vergiften? Davon haben wir bislang noch nichts gehört, aber zuzutrauen ist ihnen inzwischen ja alles. Kürzlich haben sie die Museumsinsel in Saporischschja ganz in der Nähe angegriffen. Man fragt sich: Was bitte hat das für einen Sinn? Der Nachbar sagt, sie hätten es auf die Bahnlinie abgesehen. Zu Beginn des Kriegs haben sie die Bahnstrecken in Ruhe gelassen, weil sie dachten, die könnten sie später für ihren Nachschub nutzen. Dass sie die Gleise jetzt verstärkt angreifen, zeigt, dass sie wissen, wie erfolglos ihr Krieg ist. Jetzt geht es ihnen darum, den ukrainischen Nachschub in Richtung Osten zu unterbinden. Der Erfolg ist überschaubar. Ich höre von unserem Haus aus im Zehn-Minuten-Takt große Güterzüge fahren. Trotz der gefährlichen Lage kehrt immer wieder ein kleines Stück Alltag zurück. So gibt es in den Geschäften zum Beispiel seit ein paar Tagen Cola zu kaufen. Das war in den vergangenen sechs Wochen unmöglich. So komisch das klingen mag: So etwas tut allen gut. Protokoll: awu

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