Wie groß war die Gruppe, der Sie vorstanden?

Es waren 15 Persönlichkeiten aus Europa. Die Auswahl der Gruppe hatte die Kommission bereits im Jahre 2007 gemacht, die habe ich schon so vorgefunden. Der Beschluss war nur, dass ich diese Gruppe leiten sollte.


Wie kam es dazu?

Man wollte einen bekannten Europäischen Politiker, der an der Spitze steht. Ich hatte schon im Vorfeld einmal mit Barroso gesprochen, ob es Sinn mache, zwei oder drei Politiker aus unterschiedlichen Parteien voran zu stellen, aber das hat er dann fallengelassen.


Wer gehörte zu den 15 Personen in der Gruppe?

Es waren Repräsentanten aus den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft: Vertreter der Gewerkschaft, der Unternehmerverbände – also Menschen mit den unterschiedlichsten Intentionen. Natürlich auch mit unterschiedlichen Mentalitäten. Es waren ja 11 Länder.


Gab es Animositäten? Hatten die das Gefühl, jemanden vor die Nase gesetzt zu bekommen?

Nein, überhaupt nicht. Wir hatten natürlich intensive Diskussionen, besonders am Anfang. Barroso hat ja als erster Kommissionspräsident überhaupt diese Bürokratiebelastung in Angriff genommen. Ich habe das sehr begrüßt.


Ja?

Die Europäische Kommission, die europäische Idee, ist ja in den Augen der deutschen Öffentlichkeit und der Öffentlichkeit in Europa sehr stark mit den Begriffen „Bürokratie-Moloch“ und „Bürgerferne“ verbunden. Das ist leider so. Ich habe diese Aufgabe aus Idealismus angenommen. Es ist ja ein Ehrenamt gewesen.


Sie sprechen von Idealismus…

Ja, ich wollte einen kleinen Beitrag leisten, den Akzeptanzverlust der Europäischen Union und der europäischen Idee ein wenig zurückzudrängen. Wenn Sie die Menschen auf der Straße fragen, was verbinden Sie mit Europa, dann sagen in Deutschland 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger: Bürgerferne, Bürokratie.


Ist deren Eindruck richtig? Regelt Europa zu viel?

In jedem Jahr macht die Europäische Kommission in allen 28 Mitgliedstaaten repräsentative Umfragen. Sie fragt „Was verbinden Sie mit Europa?“. In Deutschland, in Großbritannien, in den baltischen Staaten, in Skandinavien, in Holland, in Belgien und Frankreich sagen 30 bis 40 Prozent der Menschen „Moloch Bürokratie“. Weniger ausgeprägt ist das in den südeuropäischen Ländern, also in Spanien, in Portugal, in Italien.


Das ist der Akzeptanz-Verlust, von dem Sie sprachen?

Die Zahlen hat Barroso selbst immer genannt: 74 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in allen 28 Ländern, stimmen zu, wenn man sie fragt: Macht Europa zu viel Bürokratie?


Sind wir in Deutschland zu pingelig, setzen wir immer alles um, und die Südländer sitzen manches aus und warten ab?

Das auch. Aber vor allem hängt das damit zusammen, dass letztendlich 85 Prozent aller neuen Gesetze aus Europa kommen. Das haben die Menschen so noch gar nicht registriert. Der gesamte Alltag, ihr Alltag, wird immer mehr von Europa bestimmt. Ich denke da an Lebensmittelrecht, Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Fischereiwesen oder Gesellschaftsrecht. Der Binnenmarkt verlangt einheitliche Regelungen. Natürlich werden im Umwelt- oder Gesundheitsschutz die Regelungen immer mehr vereinheitlicht. Dafür hat eben die Europäische Union die Zuständigkeit.


Aber die Menschen kritisieren die Eingriffe in diesen, ihren Alltag…

Natürlich sagen die Leute, habt Ihr in Europa nichts anderes zu tun, als festzuschreiben, wie viel Watt der Staubsauger haben darf. Muss man festlegen, dass die Wärmevorhaltung bei der Kaffeemaschine nach einer halben Stunde ausgestellt wird? Wie laut und wie stark darf ein Fön sein? Wie groß sind die Löcher in den Duschköpfen?


Warum regelt Brüssel das?

Das sind viele Sicherheitsvorschriften, nehmen Sie als ein Beispiel die Schnullerketten-Verordnung. Das heißt, das hat einen Vorlauf: In Polen kommt ein Baby an der Schnullerkette zu Tode. In der Folge ist das Entsetzen groß, man fragt nach der Schuld und setzt einen Prozess in Gang. Am Ende beschäftigt sich der Abgeordnete damit und fordert, man müsse Sicherheiten einbauen, damit so etwas nicht mehr passiert. Dann folgt eine Verordnung, in der geregelt wird, welche Substanzen und Beschaffenheit die Schnullerkette haben darf.


…und der Staubsauger?

Bei der Watt-Geschichte sagen natürlich die Menschen: Die spinnen doch in Europa! Doch auch da gibt es eine Vorgeschichte. Als die Öko-Design-Richtlinie 2004 verabschiedet wurde, waren alle begeistert, galt es doch die Umwelt zu schützen. Es ging darum CO2 einzusparen, Energie zu sparen. Jetzt, da die konkreten Entscheidungen kommen, sagt man: Kümmert Euch doch mehr um die Ukraine als um so was! Man muss nicht alle Risiken per Gesetz ausschließen, manchmal reicht auch der gesunde Menschenverstand.


Also doch zu viel Reglement?

Natürlich regelt die Europäische Kommission zu viel. Ich sage auch: Ich halte bei all dem, was ich gerade als Beispiel angeführt habe, nicht für angemessen, dass Europa das klärt. Das kann auf der nationalen Ebene gemacht werden. Warum muss Europa eine einheitliche Schnullerketten-Verordnung haben? Warum muss Europa vorschreiben, dass Ölkännchen einen einheitlichen Verschluss haben müssen? Das sind doch Details, die der europäischen Idee nicht angemessen sind.


Und da setzt Ihre Entbürokratisierung an?

Ich sage, diese Detail-Regelungen müssen weniger werden. Europa muss sich reduzieren, muss sich beschränken. Barroso hat es so genannt: Bigger on the big things, smaller on the small things. (übersetzt etwa: „Stärker in den großen Dingen, zurückhaltender in kleinen Dingen.” Anm. der Red.) Das ist, und das sage ich ganz offen, ein Erfolg der Bemühungen von sieben Jahren. Was der Kommissionspräsident im Herbst 2014 so ausdrückt, wäre vor zehn Jahren nicht vorstellbar gewesen.


Warum nicht?

Weil man damals davon ausgegangen ist, dass jede Regelung aus Europa gut ist, weil sie mehr Europa schafft. Das war die Situation der 70er-, 80er- und 90er-Jahre.


Das ist dann letztlich auch Ihre Kritik an der Binnenmarktklausel?

Natürlich. Meine Schlussfolgerung deshalb, weil Bürokratie nicht von den Bürokraten, sondern von der Politik geschaffen wird: Die Bürokratiekosten, die künftig durch ein neues Gesetz auflaufen, müssen auf Euro und Cent ausgerechnet werden. Jede neue Richtlinie muss von zwei Seiten beleuchtet werden. Auf der einen Seite, warum sie sein muss, und auf der anderen Seite, welche Kosten entstehen. Und diese Rechnung muss auch auf nationaler Ebene aufgestellt werden.


Was heißt das in der Praxis?

Wenn eine EU-Richtlinie umgesetzt wird, muss zum Beispiel in Deutschland der Normenkontrollausschuss auflisten: Das kostet soundsoviel. Damit dann die Politik entscheidet, ob das zu sehr verwaltungslastig ist oder nicht. Im Bundestag oder Landtag hört man solche Debatten gegenwärtig noch nicht. Da geht es immer nur um das Ziel des Gesetzes. Weil es notwendig ist, die Umwelt zu schützen oder die Schule zu verbessern oder… Aber was das kostet, also nach den Bürokratiekosten, fragt derzeit keiner.


Wer könnte das kontrollieren, aufrechnen?

Mein wichtigster Vorschlag ist ein unabhängiges Gremium, das diese Auswirkungen eines Gesetzes im Vorfeld beleuchtet. Das sagt dann: Das Gesetz ist zu verwaltungslastig, da laufen Bürokratiekosten in dieser oder jener Höhe auf. Ich fordere dieses unabhängige Gremium für Brüssel. Auf der nationalen Ebene gibt es das in Deutschland, in Großbritannien, in Schweden, in Holland und Tschechien und ganz neu ab 1. Januar 2015 dann auch in Frankreich.


Das sind nicht alle Länder…

Ich fordere natürlich, dass das in allen Mitgliedstaaten eingerichtet wird. Dann kann sich die Politik nicht mehr empören über Bürokratiekosten, denn dann hat sie schwarz auf weiß, was eine Richtlinie auslösen kann. Das hat man bisher nie diskutiert.


Nie?

Sehen Sie als Beispiel: Wir haben in Deutschland lange über Mindestlohn diskutiert, warum der sein muss. Jetzt haben wir ihn beschlossen. Keiner hat gefragt, was das an Kontrollkosten mit sich bringt. Und nun reden wir darüber, dass die Einführung 1600 Planstellen für Kontrolleure schaffen wird. Das muss man vorher wissen!

Es geht Ihnen aber nicht nur um das Eindämmen in Zukunft, sondern um Reduzierung allgemein.


Ja. Meine zweite Forderung ist: Wenn man künftig die Bürokratie netto reduzieren will, dann muss man beim Beschließen eines neuen Gesetzes zugleich ein anderes Gesetz abbauen. Das nennen die Engländer, die das schon praktizieren, „one in, one out“ (übers.: eines rein, eines raus). Die haben das, und die haben dadurch alleine in den vergangenen Jahren zwei Milliarden Euro an Bürokratie eingespart. Wenn der Arbeits- oder der Umweltminister ein neues Gesetz vorlegt, muss er gleichzeitig aufzeigen, wo an anderer Stelle Bürokratie eingespart werden kann. Jedes Kabinettsmitglied unterliegt dort dem Zwang, aus seinem Bestand ein Entlastungsgesetz einzubringen.


Wo kann das hinführen?

Mein dritter Punkt ist, dass sich die europäische Ebene auch ein Nettoziel setzt. Man muss sagen: Wir wollen in den nächsten fünf Jahren Bürokratie-Kosten in der Höhe von 10 oder 15 Prozent einsparen. Damit setzt man sich selbst unter Zwang, und das ist wichtig.


Hat dieses neue Denken in Brüssel eine Chance?

Die Kommission muss Mut zur Lücke haben. Sie muss begreifen, dass sie nicht jedes Detail regeln muss. Das Umdenken ist das Wichtigste.


Häufig klagt der Mittelstand, der kleine Handwerker, über zu viel an Papierkram, den ihn die EU aufbürdet.

99 Prozent aller Betriebe sind Klein- oder Kleinstbetriebe. Man muss zuerst an die Kleinen denken. Es muss für die kleinen Betriebe Ausnahmen geben. Man kann nicht die Firma Siemens mit einer kleinen GmbH in Wunsiedel gleichsetzen, die mit sieben oder acht Leuten einen Umsatz von 700.000 Euro im Jahr macht. Jede GmbH muss im Bundesanzeiger ihre Geschäftsdaten veröffentlichen. Es ist selbstverständlich notwendig, dass ein Unternehmen in der Größe von Siemens alle seine Daten offenlegt. Aber ob jetzt die kleine GmbH in Wunsiedel das genauso machen muss und deswegen extra einen Wirtschaftsprüfer fragen muss? Das Finanzamt fragt bei solchen Unternehmen: Was hast du an Einnahmen, was hast du an Ausgaben? Den Überschuss musst du versteuern. Wenn das dem Finanzamt reicht, dann muss das auch für Europa gelten. Da muss ich doch nicht zusätzlich noch vorschreiben, wie der kleine Betrieb in der Öffentlichkeit detailliert seine Daten darlegen muss.


Das ist in ganz Europa so oder nur in Deutschland?

Das war in ganz Europa so, das haben wir jetzt geändert und so auch festgeschrieben. Der Vorschlag hat bis zur Umsetzung fünf Jahre gedauert. Wir mussten drei Ebenen überzeugen: Die Kommission, dann das Parlament, am Ende noch den Rat. Das war eine mühsame Angelegenheit.


Wie war die Zusammenarbeit mit Barroso?

Die war gut. Natürlich hat sich die Kommission lange gesperrt, was Entscheidungen betrifft, die in die Zukunft wirken. Wir haben ja nicht nur bestehende Gesetze angesehen, um Bürokratie abzubauen. Wir wollten in die Zukunft wirken, damit Bürokratie gar nicht erst entsteht.


Wie wirbt man für dieses neue Denken in den drei Ebenen?

Permanent. Wir waren mit der Kommission, mit den Kommissarinnen und Kommissaren, mit den Generaldirektoren und den leitenden Beamten in 55 ganztägigen Sitzungen in den letzten Jahren am Ball. Das war keine sexy Angelegenheit. Da ging es hart um einzelne Formulierungen, ums Ändern von Gesetztestexten, Vollzugshinweisen und und und. Da gab es permanente Auseinandersetzungen. Doch das hat das Denken der Kommission insgesamt verändert.


Das klingt nach Hartnäckigkeit…

Kein Mensch war so lange Mitglied in einer Staatsregierung wie ich, 25 Jahre lang als Staatssekretär, Minister, Ministerpräsident. Wenn Sie sieben Jahre mit Stoiber zu tun haben – also mit jemandem, der alle Facetten der Landes-, Bundes- und Europapolitik erlebt hat – dann ist man ein interessanter Gesprächspartner auch für die Kommission und für die Beamten. Das war insoweit gut, weil wir zwar in unserer Bürokratie-Abbau-Kommission hervorragende Fachleute hatten, doch die kannte man natürlich nicht. Somit habe ich dem Ansinnen unserer High Level Group auch ein Gesicht geben können.


Sie haben überzeugen können?

Ja, ich habe mit allen Fraktionen gesprochen, mit allen Fraktions- und Ausschussvorsitzenden und und und. Bürokratie-Abbau wollen alle und deshalb habe ich am Ende auch überzeugen können.


Wie geht es weiter?

Ich habe den Abschlussbericht Barroso übergeben können. Ganz klar: Wenn Jean-Claude Juncker im Amt ist, werde ich ihm den Bericht übergeben. Dann kommt es darauf an, was Juncker umsetzen will.


Was will er? Wie ist Ihre Einschätzung?

Nach meinen Gesprächen mit Jean-Claude Juncker bin ich sehr, sehr zuversichtlich, dass er da vieles übernehmen wird.


Sie sprechen so engagiert gegen ein Zuviel an Regelungen. Machen Sie weiter?

Nein. Dieses Amt, das ich ehrenamtlich ausgeübt habe, hat mich schon zwei Tage pro Woche gekostet. Da waren die Besprechungen innerhalb meiner Gruppe, dann die Reisen in die europäischen Hauptstädte, zum Beispiel nach Rom, London, Paris, Stockholm oder Prag, um die Verwaltungen zu inspizieren und mit den Ministern über die Effizienz der Verwaltung zu sprechen. Das ist jetzt abgeschlossen.


Da findet sich bestimmt etwas Neues?

Ich suche keine neuen Ämter. Jean-Claude Junker hat mir ausdrücklich gesagt: Er will, dass ich ihn weiterhin berate und ihm zur Seite stehe. Seine Ansicht: Der Weg ist noch nicht zu Ende und ich brauch‘ dich da noch. Ob ich das mache, das werden wir dann bei der Übergabe des Berichtes nochmals bereden.


Eine Frage zum Abschluss: Sie sind glühender Europäer, Sie glauben an Europa?

Nicht glühender Europäer, das trifft es nicht. Ich sage, Europa hat große Aufgaben. Ein Beispiel: Der Partnerschaftsvertrag der Europäischen Union mit Russland ist 2008 ohne Nachfolgeabkommen ausgelaufen. Es wäre wichtiger gewesen, sich damit zu beschäftigen als mit den Stöckelschuhen von Frisörinnen. Das ist nicht ganz fair, aber ich muss so einen wuchtigen Vergleich ziehen.


Das könnte die Akzeptanz von Europa wieder erhöhen?

Natürlich sind die Menschen schon jetzt mehrheitlich für Europa. Gott sei Dank. Aber Europa strahlt – das weiß jeder aus seinem Bekanntenkreis – keine große Faszination aus. Wenn wir künftig überhaupt gegen Firmen wie Google, Microsoft, Yahoo, Facebook - die von Amerika und den Asiaten dominiert werden -, im digitalen Bereich punkten wollen, müssen wir das „europäisch“ machen. Sonst werden wir uns in wenigen Jahren, was die Ökonomie betrifft, umschauen. Europa hat große Aufgaben, daran glaube ich. Man muss Europa davor bewahren – und das war mein Engagement – zu groß in kleinen Dingen zu sein. Wir brauchen unsere Kraft für große Dinge.

Das Interview führte Kerstin Dolde