Wir versprechen uns Ruhe und Erholung, eine Auszeit vom Alltag, und lassen deshalb Wartburg und Touristenrummel links liegen. Der Weg durch den frühlingsfrischen Mischwald bringt uns nach kurzer Zeit zum Rennsteig. Fast eine Stunde folgt der Pilger- dem Kammweg, unter den Füßen knirscht der Kies. Viel zu schnell sind wir in Wünschensuhl, wo sich mehrere Nachbarn zusammengetan haben, um den Pilgern die Herberge aufzuschließen. In der Baracke gibt es eine heiße Dusche und bequeme Matratzen, im Küchenschrank Kaffee, Nudeln und Sauce im Glas – was will man mehr nach einem bewegten Tag?
Das letzte Wegstück bietet noch einmal alles auf, was den Pilger- zu einem ganz besonderen Wanderweg macht. Natur und Geschichte, Waldweg und asphaltierter Fußweg neben vielbefahrener Straße, freundliche Einladung zur Einkehr auf einem Hof am Straßenrand. "Pilger dürfen auf dem Hof rasten" steht in ungelenken Buchstaben auf einem Schild am Gartenzaun in Oberzella.
In Vacha, nachdem wir die Werra überquert haben, erinnert uns ein kleines Schild am Wegrand ein letztes Mal an den Ursprung des Ökumenischen Pilgerwegs. Er folgt dem Verlauf der mittelalterlichen Via Regia, einem Handelsweg, der unter königlichem Schutz stand. Er verbindet Santiago de Compostela, Ziel der Jakobspilger, mit Bordeaux, Paris und Leipzig und führt über Breslau bis Moskau oder nach Kiew. Weil aus ganz Europa Pilger zum Grab des heiligen Jakob aufbrachen, wird manchmal auch von den Wegen der Jakobspilger gesprochen. Sie alle führten, ob von Rom kommend, von Köln oder Stettin, in die Pyrenäen und zum Grab des Heiligen Jakob.
Aus Vacha soll auch der Verfasser des ersten deutschsprachigen Pilgerführers stammen. Hermann Küng von Vach war 1479 Mönch im Servitenkloster und pilgerte über Genf, Montpellier und Tolouse nach Santiago de Compostela. Sein Rückweg führte ihn über Paris und Brüssel nach Aachen. Von seinem Kloster steht heute nur noch der Chor, er wird als Friedhofskapelle genutzt.
Unser letztes Quartier liegt nahe der Kirche im Dachgeschoss des Pfarrhauses. Hier bekommen wir einen dunkelblauen Anstecker, groß wie ein Zehn-Cent-Stück. Das Symbol des Jakobsweges ist darauf abgebildet, die Muschel vor zwei gekreuzten Stäben, und die Werrabrücke mit ihren drei Bögen. "Ökumenischer Pilgerweg auf der Via Regia" lautet die Umschrift, "Görlitz – Vacha 450 Kilometer". Von einer Brücke zur anderen sind wir gelaufen, die Altstadtbrücke in Görlitz war unser Ausgangspunkt.
Was vom Weg bleibt? Der Wunsch, ihn noch einmal und dann an einem Stück zu laufen, am besten allein, wie es die Pilger zu allen Zeiten taten. Der Idee, weiterzulaufen, nach Fulda und dann über Würzburg und Rothenburg nach Speyer und Metz. Oder über Frankfurt und Trier mit einem Abstecher nach Köln und weiter Richtung Aachen, wie Mönch Hermann vor einem halben Jahrtausend. Dankbarkeit stellt sich ein beim Gedanken an die vielen Helfer, die den Weg jährlich neu beschildern, die Beschreibung aktuell halten und die ihre Türen ganz selbstverständlich für Wanderer öffnen. Und das oft auf der Basis einer Spende, deren Höhe selbst gewählt werden kann.
Was bleibt, sind auch die Eindrücke von einem Stück Mitteldeutschland, das ich ohne den Pilgerweg nie besucht hätte. Kleine Städte und winzige Dörfer, verbunden durch den Weg und eine lange Geschichte. Der gemeinsame Weg hat mich auch meinen Freunden näher gebracht. Wir wollen weiterlaufen, so viel ist sicher, wir wissen nur noch nicht, welchen Weg wir uns als nächstes vornehmen.
WAS PILGER WISSEN SOLLTEN
Wandern auf den Spuren der Jakobspilger, und das fast vor der Haustür – auf der Via Regia in Mitteldeutschland geht das auch etappenweise. Die mittelalterliche Handelsstraße wurde 2003 zwischen Görlitz und Vacha als ökumenischer Pilgerweg eingerichtet. Er gehört seitdem zum stetig wachsenden Netz der Jakobswege in Europa, die im spanische Santiago de Compostela am Grab des Heiligen zusammenlaufen.
Das Handbuch enthält neben einer Wegbeschreibung mit Herbergsadressen viele Zusatzinformationen zur Orts- und Landesgeschichte. Das Buch kostet zwölf Euro plus Versandkosten und kann im Internet bestellt werden www.oekumenischerpilgerweg.de. Aktuelle Ergänzungen werden als Download zur Verfügung gestellt.
Der Pilgerausweis ist der Schlüssel zu den Herbergen und dem Pilgerhandbuch des Vereins Ökumenischer Pilgerweg beigelegt. Einzeln kostet er zwei Euro. Die Stationen der Reise werden per Stempel in den Herbergen und von vielen Kirchgemeinden dokumentiert.