Er habe nicht mehr die Ausdauer, einen Roman zu schreiben, sagt Senor J. C, der ein in Australien lebender südafrikanischer Schriftsteller ist. Ausgedacht hat ihn sich J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt (Südafrika) geboren wurde, seit 2002 in Australien lebt und im Jahr 2003 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Der „Senor“ ist Hauptfigur seines neuen Buches, das „feste Ansichten“ darüber enthält, „woran die heutige Welt krankt“. Zu lesen sind kleine, von J. C. angeblich im Auftrag eines deutschen Verlags verfasste kleine Essays „über den Ursprung des Staates“, über Demokratie und Terrorismus, über Intelligent Design und Pädophilie, über Vogelgrippe und sportlichen Wettbewerb („Was einst Spiel war, ist nun Arbeit“).

Tatsächlich also hat Coetzee diesmal keinen Roman geschrieben. Oder doch? Immerhin gibt es, auf jeder Seite unterm Strich, erzählerische Passagen. Man erfährt, wie J. C. im Waschmaschinenraum einer aufregenden jungen Frau begegnet (mit einem „Hinterteil, das der Vollendung so nahe kam, dass es himmlisch genannt werden musste“); wie er sie anspricht und bittet, als Sekretärin für ihn tätig zu werden; und wie er dann mit ihr über seine Ansichten diskutiert, die von der Frau, sie heißt Anya, durchaus kritisch betrachtet werden.

Ab Seite 33 kommt zusätzlich Anya selbst zu Wort. Sie stellt sich mit dem Bekenntnis vor, in Anwesenheit des Schriftstellers, der im Buch übrigens sechs Jahre älter ist als Coetzee, gern mit ihrem „tollen Hintern“ zu wackeln („Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich die Augen nicht von mir wenden“). Doch keine Sorge: Es wird hier nicht schon wieder – wie zuletzt in Büchern von Martin Walser und Philip Roth – davon erzählt, wie ein alter Mann sich in eine junge Frau verliebt. Anya lebt nicht unglücklich mit Alan, einem Investmentbanker, zusammen. Allerdings geht die Beziehung in die Brüche, weil der Gefährte einen Zinsbetrug an dem „Alten“ plant und diesen bei einer kleinen Feier aufs Peinlichste beleidigt.

Am Ende fügt J. C. seinem Essayband einen zweiten Teil mit „milderen Ansichten“ (über Kinder und Mitgefühl, über die Muttersprache und das Fotografiertwerden) hinzu. Das Ganze, betitelt als „Tagebuch eines schlimmen Jahres“, ist lesenswert nicht nur als scharfe – und kluge – Abrechnung mit der Gegenwart, sondern zugleich als kühnes Erzählkonstrukt. Ralf Sziegoleit

J.M. Coetzee: Tagebuch eines schlimmen Jahres. S. Fischer, 236 Seiten, 19,90 Euro.