Wunsiedel – Das Selbstverständnis Jean Pauls als Schriftsteller und Mensch, ja sogar das Selbst-Erkennen und seinen Umgang damit, arbeitete zum Abschluss der dritten Jean-Paul-Literaturtage in Wunsiedel Professor Dr. Peter-Horst Neumann aus Nürnberg in einem kurzweiligen Vortrag heraus. Seinen Ausführungen über „Das zerrissene Ich. Die Erschütterungen des Jean Paul Friedrich Richter“ folgten die Zuhörer im voll besetzten Café des Fichtelgebirgsmuseums mit großem Interesse, was sich in langem Applaus und detaillierten Nachfragen äußerte. Immer wieder wies Neumann auf die ausgeprägte Sprachfreude Jean Pauls hin: „Auf jedes Wort kommt es an!“

Der Weg, Jean Pauls Werke zu verstehen, führt immer auch über seine Biografie. Professor Neumann stellte demnach seinem Vortrag nach der leiblichen Geburt des Dichters in Wunsiedel die „Geburt seines Ich“ in Joditz aus der „Selberlebensbeschreibung“ voran: „An einem Vormittag stand ich als sehr junges Kind unter der Haustüre, als auf einmal das innere Gesicht ,ich bin ein Ich’ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr. Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“ An dieser aufwühlenden Erfahrung seiner Einmaligkeit hing, wie Neumann sagte, auch die für den späteren Dichter vielleicht entscheidende Lebensfrage nach dem „Du“, nach Gott und der Unsterblichkeit.

Als Student der Theologie in Leipzig wandte sich Jean Paul schon bald der Philosophie, den Sprachen und anderen, interessanteren Fächern zu. „Er las und studierte, um Schriftsteller zu werden.“ Dafür nahm er als hungernder Student wie auch während seiner ersten Stellung als Hauslehrer in Kauf, an seiner bitteren Armut vorläufig nichts ändern zu können; in seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden, war Jean Paul rücksichtslos gegen sich selbst, aber auch gegen seine darbende Familie.

Das Schreiben war für ihn aber immer auch lebensrettende Beschäftigung, denn zu dieser Not kamen damals zwei schwerwiegende „Elendsdaten“ für den jungen empfindsamen Mann – der Selbstmord seines Bruders und der Hungertod seines besten Freundes.

In dieser Zeit schrieb er seine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ – eine, wie Neumann sagte, „Schreckensvision, die an Sprachgewalt und Gottesverzweiflung nicht zu überbieten ist“. Ernst Bloch habe sie die „paradoxestes aller Visionen“ genannt. Die Gegensätzlichkeit des Ich-Erzählers, der – träumend – Christus selbst Gott leugnen und damit den Standpunkt eines zentralen Atheismus einnehmen lässt; erwachend jedoch stellt er fest, dass Gott ein Gott der Lebenden ist: „Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte.“

Diese „Gleichzeitig- und Gleichrangigkeit von Ja und Nein in einer Person müsste“, so führte der Referent anschaulich aus, das Ich zerreißen. Das zu überleben sei ihm „nur möglich durch die strikte Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit“. Fortan habe er in seinen Romanen die Zwiespältigkeit seines Ich, die ihm hier zum ersten Mal bewusst geworden sei, auf zwei antipodische Gestalten, auf Freundes- und Brüderpaare, übertragen.

Als Beispiel führte Peter-Horst Neumann das Zwillingsbrüderpaar Walt – in dem Werk der biografisch-literarische Stellvertreter des Autors – und Vult aus dem Roman „Flegeljahre“ an: „Hier hat Jean Paul die Eigenheiten seines geistigen Profils auf die beiden unvereinbaren, einander dennoch liebenden Brüder aufgeteilt.“ Was Literatur sowohl am Schreiber als auch an den Zuhörern in puncto Erkenntnis zu leisten vermag, so der Jean-Paul-Fachmann zusammenfassend, „das ist hier gelungen“.