Mit visionärer Kraft und poetischer Prägnanz - so meinte das Stockholmer Komitee, das ihr 1993 als erster Afroamerikanerin den Nobelpreis für Literatur zuerkannte - schreibt Toni Morrison über eine wichtige Seite der amerikanischen Geschichte und des Lebens in den USA. Es ist die Seite der Schwarzen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. Ihr erster Roman hieß "Sehr blaue Augen" und erzählte die Geschichte eines schwarzen Mädchens, das von der herrschenden Schönheitsnorm in den Selbsthass und schließlich in den Wahnsinn getrieben wird. Damals, 1969, war die heute vor 80 Jahren in Cleveland (Ohio) geborene Autorin, nach Scheidung ihrer Ehe, allein erziehende Mutter zweier Kinder. Weil ihre Bücher Fragen aufgreifen, die jeden bewegen, hat Morrison auch außerhalb ihrer ursprünglichen Zielgruppe ein breites Publikum gefunden. Dabei macht sie es ihren Lesern keineswegs leicht: Die Komplexität ihrer Sprache erfordert höchste Konzentration. Literatur-Experten bescheinigen ihr Ausdruckskraft, Intensität und formale Meisterschaft und vergleichen ihre Kunst mit der William Faulkners, der 1949 den Nobelpreis erhielt. Als ihr wichtigster Roman gilt das 1987 erschienene "Menschenkind", die Geschichte der entflohenen Sklavin Sethe, die eines ihrer Babys tötet, um es nicht in die Hände ihrer Verfolger fallen zu lassen. Das Buch macht deutlich, dass das individuelle Leben ebenso wie die kollektive Geschichte der schwarzen Bevölkerung auch noch in Freiheit von den Traumata der Vergangenheit beherrscht wird. Im vergangenen Jahr kam der jüngste Roman der Nobelpreisträgerin in deutscher Übersetzung heraus. Unter dem Titel "Gnade" behandelt er die Vielschichtigkeit des Problems der Sklaverei am Ende des 17. Jahrhunderts.