Aller Fleiß ist morgendlich", postulierte Thomas Mann und verlangte für seine schriftstellerische Arbeit, vormittäglich von neun bis zwölf, nicht viel: nur ein Dach über dem Kopf, "weißes, vollkommen glattes Papier, flüssige Tinte und eine neue, leicht gleitende Feder". Die Abertausend Seiten seiner Prosa schrieb der Nobelpreisträger sämtlich mit feiner Hand nieder, "sehr langsam", wie Gattin Katja sich erinnerte, und sehr gut "vorbereitet": "Er änderte danach so gut wie nichts."

Jungen Leuten mögen die Zitate vorkommen wie eine Mär aus vorelektronischer Steinzeit. Handschrift gilt nicht mehr viel; und der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband beklagt bitter ihren Verlust: Mit ihr verflüchtige sich ein "grundlegendes Kulturgut", warnte Verbandspräsident Klaus Wenzel dieser Tage und stellte sie in eine Reihe mit anderen Inhalten "ganzheitlichen Lernens wie Malen, Singen, Musizieren", die ebenfalls "mehr und mehr ins Hintertreffen" gerieten. All das müsse zurück in den Lehrplan.

Tatsächlich gibt es neben der Grundschule kaum noch Orte für den modernen Menschen, handschriftlich zu Werke zu gehen. Seine Termine verwaltet er mittels tragbarer Kleincomputer, Notizen, sogar Einkaufszettel flattern virtuell um die Welt. In der gymnasialen Oberstufe ersetzt vielfach das Laptop Heft und Stiftetäschchen, und an den Hochschulen geht zwischen Immatrikulation und Abgabe der Masterarbeit fast alles online vonstatten. Auch Computerbildschirm und Tastatur sind global zu Kulturgütern geworden - und unverzichtbar, was sich von Feder, Tinte und Papier nicht mehr behaupten lässt.

Dabei war das Schreiben Jahrtausende hindurch ein Hand-Werk und Geschriebenes nicht selten ein Stück Kunst. Historisch betrachtet, greift der Begriff der Handschrift übers Persönliche weit hinaus. Die Papyros- und Pergamentrollen der Antike, die Kodizes - Handschriften - des Mittelalters erhielten und vervielfältigten sich in den Skriptorien - Schreibsälen - der Klöster, was sie anstrengender Körperarbeit der Mönche verdankten. Die reproduzierten in endlosen Buchstaben-Reihen und -Kolumnen von edler Homogenität die Schätze des Glaubens und des Wissens und fügten ihnen überdies kostbare Bilder ein, Epochen überstrahlend: Illuminationen heißen solche Buchmalereien; das Wort hat unmittelbar mit Erleuchtung zu tun.

Noch lange nach der Erfindung des Buchdrucks, bis ins 20. Jahrhundert hielt sich der Beruf des Kopisten, der mit einer gut lesbaren "Hand" aus einem Konzept die Reinschrift in Schönschrift herstellte. Schönschrift als Schulfach kannte noch die Großelterngeneration. 1500 Jahre reicht die Tradition der japanischen, mit ernster Andacht betriebenen Kalligrafie zurück: "Shodo", der "Weg des Schreibens", führt Gefühl, Vernunft und Leib "ganzheitlich" in einer Harmonie zusammen, durch die das Einfache und das Erhabene, Sprachsinn und Schriftzeichen sich in Vollendung vereinen.

Bei einer Alltags-Handschrift wäre solche Überhöhung fehl am Platz. Aber als unverwechselbar individueller Ausweis einer Persönlichkeit darf und soll sie schon gelten: als Alleinstellungsmerkmal, gleichsam als geistiger Fingerabdruck und sichtbar gewordener Dialekt - oder, bei einer Sauklaue, als Sprachstörung - der schreibenden Persönlichkeit.

Ein Kommunikationsmittel: "Leserlichkeit", meinte der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt, "ist die Höflichkeit der Handschrift." Nach der "Ausdrucksspur" eines Individuums suchen Grafologen in ihr - mit welchen Ergebnissen, das ahnt derzeit der Besucher der Ausstellung, die das Wunsiedler Fichtelgebirgsmuseum dem Verhältnis Jean Pauls zu den Frauen widmet. Fachwissenschaftlich kommentiert dort Christa Hagenmeyer Schriftproben des Dichters aus unterschiedlichen Lebensperioden. Bereits im Teenager-Aufsatz durchschaut sie die "Kombinationsgabe" des späteren Romanciers; dem Mittdreißiger sagt sie, von weiten Wortzwischenräumen auf Zwischenmenschliches schließend, "Distanz" zu seinen Nächsten, zumal den weiblichen, nach. So suggeriert die Expertin, Jean Pauls Persönlichkeit lasse sich durch seine Schrift begreifen, wenn schon der Sinn der Schriften oft ein Rätsel bleibt.

Als Hand-Werk bedarf das Schreiben tauglichen Handwerkszeugs. Was für Thomas Mann die "neue, leicht gleitende Feder", das war für Johann Wolfgang Goethe der Bleistift, den er dem Federkiel unbedingt vorzog: "Denn es war mir einige Mal begegnet, dass das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte." Knapp 200 Jahre später bekannte sich die Poetin Ulla Hahn ähnlich: "Wenn ich nicht mit der Hand schreibe, bin nicht ich es, die schreibt. Es muss aus dem Kopf durch den Körper in die Hand aufs Papier kommen." Als 31-Jähriger wechselte Hermann Hesse, bislang entschiedener Handarbeiter, zur Schreibmaschine: "Der Übergang von der Hacke zum Pflug."

Liebesbriefe aus dem Laserdrucker zeugen nicht eben von Herzlich- und Aufrichtigkeit. Urkundliches bedarf wenigstens der eigenhändigen Signatur: Testamente, Bankvollmachten, Kaufverträge ... Doch müssen nur mehr die wenigsten Schriftstücke zwingend von Hand geschrieben sein. Wirklich spart das Wörterwerkeln via Computertastatur dem versierten Tipper viel Zeit und Fingermuskelkrämpfe; indes raubt es zugleich erst dem Nachdenken, dann dem Formulieren Zeit für abwägende Gründlichkeit. Und wenn der Rechner die Arbeit der Formatierung übernimmt, verzichtet der Texter auf die Muße für die erquickliche Mühe, eigenhändig eine äußere Form mit ihren spezifischen Buchstabenhöhen und -unterlängen, Einrückungen, Wort- und Zeilenabständen zu gestalten.

Am Bildschirm sieht schon jeder Rohentwurf fast wie eine Reinschrift aus: Behutsam oder triumphal breitet die scheinbar druckfertige Aufmachung das Deckmäntelchen über die Erbärmlichkeit so manchen Inhalts. Schon in den Anfangsjahren der elektronischen Textverarbeitung fühlte sich der Publizist Johano Strasser weniger motiviert als eingeschüchtert von der "Majestät" des vorgefertigten Schriftbilds.

Auch materiell kann Selbstgeschriebenes an Wert gewinnen: als kostbarer Autograf eines Dichters oder Künstlers, einer Person der Geschichte. Nun wird dergleichen immer seltener. Vor zwei Jahren schon widersprach die Neue Zürcher Zeitung den jüngst mahnenden Bayerischen Lehrern, indem sie der Handschrift "als einer unnatürlichen Art zu schreiben" das Grab schaufelte: "Wir sollten sie auf den Müllhaufen der Geschichte werfen und nicht mehr unsere Kinder damit drangsalieren." Dafür hinterlässt ein Fußballtrainer seine "Handschrift" in einem Verein, der Geschäftsführer in einem Wirtschaftsunternehmen, der Designer an einem Luxusmöbel. Allenfalls auf Kommunikation, nicht mehr auf Kalligrafie bezieht sich die Redewendung. Und wenn es künftig doch von jemandem heißt, er schreibe eine kräftige Handschrift, dann lässt das höchstens den Schluss zu, dass kein Gras mehr wächst, dort, wo er zuschlägt.

Das Spritzen der Feder erstickte ein kleines Produkt in der Geburt.

Johann Wolfgang Goethe


Weißes, glattes Papier, flüssige Tinte und eine neue, leicht gleitende Feder.

Thomas Mann