Die Oper kennt merkwürdige Extreme. So siedelte Jules Massenet seinen "Gaukler von Notre Dame" aus dem Jahr 1902 unter lauter Mönchen an, wodurch dem Werk Frauenrollen weitgehend fehlen. Umgekehrt besetzte der Franzose Francis Poulenc in seinen "Dialogen der Karmeliterinnen" alle tragenden Partien mit Nonnen, also Damen. Und im gleichfalls klösterlichen Einakter "Schwester Angelica" des Italieners Giacomo Puccini haben Herren rein gar nichts zu melden. Zu den Tonsetzern, die dergestalt Paraderollen namentlich für Sängerinnen schufen, gehört besagter Massenet, trotz seiner Männeroper, indes auch. Einen "Dokumentaristen der weiblichen Seele" nannte ihn sein Landsmann Claude Debussy, der selbst nur eine einzige Oper schrieb. Massenet brachte es auf beinah dreißig; immerhin zwei überdauerten bis heute. "Manon" trägt den Damennamen schon im Titel; um Manon Lescaut handelt sich's, die in der Liebe labile (und später ebenso von Puccini auf die Musikbühne gebrachte) Zentralgestalt eines einst berühmten Romans; übrigens war auch sie vom Autor, dem Abbé Prevost, ursprünglich fürs Kloster vorgesehen. Mit der Pariser Uraufführung der Oper 1884 errang Massenet den endgültigen Durchbruch. In seinem "Werther" - die Adaption des Goethe-Romans kam 1892 in Wien heraus - liegt das Hauptgewicht immerhin zu gleichen Teilen auf dem selbstmörderischen Titelhelden wie auf seiner Angebeteten Charlotte. Massenet, der heute vor hundert Jahren 70-jährig starb, musste sich nach seinem Tod den Vorwurf großbürgerlicher Gefühlsduselei gefallen lassen. Dem halten Kenner entgegen, er habe emotionalen Ausdruck und dramaturgische Notwendigkeit, Figurencharakter und Klang meisterlich verknüpft. Wer's richtig sentimental liebt, sei auf die "Méditation" aus seiner "Thaïs" verwiesen: Die Oper selbst ist fast vergessen; das Geigenstück daraus blieb allerdings ein Hit.