Eigentlich ist in jener Nacht nichts wirklich Schlimmes passiert. Zwar hielt einer der Vermummten dem wehrlosen Anton ein Messer an die Kehle, während zwei andere Einbrecher Franziska aus dem Schlafzimmer drängten. Doch die Ganoven verließen das Haus an Mittelenglands Westküste bald wieder, mit entbehrlicher Beute und ohne Anton oder seiner Frau etwas anzutun. Es hätte viel schlimmer kommen können, das weiß auch Anton, der deutsche Literaturwissenschaftler. Dennoch verfinstert ihn seither stumm ein Schuldgefühl: Er, der Greisenalte, hätte seine weit jüngere Frau schützen müssen und konnte es nicht. Eigentlich, so fürchtet er, hat er sie an die Ganoven verraten.

Verrat bestimmt Antons Vergangenheit, die während eines nächtlichen Fußmarsches am Meeresstrand machtvoll in ihm aufsteigt und nach Klärung verlangt. Ein zweimaliger Verrat: Als Junge, zur Nazizeit in der Heimat, hat er das Comeback seines abgewirtschafteten Vaters, eines Geigers, versehentlich ge- und zerstört; und er wurde zur Ursache dafür, dass drei Eindringlinge der Gestapo den Vater wenig später aus der elterlichen Wohnung holten, weil er Hitler für "ein Arschloch" hielt.

In "Tage der Nacht" macht Yorck Kronenberg die Nacht zum Spiegel folgenreicher Tage. Lebensweichen, fremde und eigene, hat Anton als Knabe gestellt, an einer Weiche sieht er sich gegen Ende seines Lebens neuerlich angelangt. Jene Situation am doppelten Scheideweg beschreibt der Autor in seinem neuen, vierten Roman mit einem hohen Grad an Empathie, für die er all seine erzählerische Kraft zusammennimmt. Um Anton vor allem als Kind und seinen labilen, trinkenden, zu verzweifelter Gewalt neigenden Vater auszuloten, ist er bereit, die übrigen Figuren - auch die Mutter, auch Franziska - wenig kenntlich im Nebel stehen zu lassen. Nicht so sehr auf Nebenmenschen wie auf Zeiten konzentriert sich Kronenberg. Geschickt durchmischt er vier Ebenen miteinander: Antons Nacht der Erkenntnis; die Nacht des Einbruchs kurz zuvor; die fernen Kindheitstage; und die traurige Sehnsucht einer englischen Schifferwitwe, die vor 150 Jahren auf einem Küstenfelsen nach ihrem nie wiederkehrenden Mann Ausschau hielt, Tag für Tag, jahrelang.

Nicht allein als Schriftsteller tut sich der - 1973 in Reutlingen geborene - Autor hervor; auch als Pianist reüssierte Kronenberg, mit Wettbewerbs-Siegen und mehreren CDs. Indes wehrt er sich in seiner Sprache gegen ausgeschmückten Wohllaut, schmeichelnden Rhythmus und Klang. Bis zur lichtlosen Trockenheit nimmt Kronenberg sie zurück, senkt bedrückend die Wolke deutschen Schwersinns über seinen Stoff und erlaubt sich etliche Schnitzer, die auch dem Lektor entgingen.

Umso präziser verfolgt er, wie sich für den Protagonisten dessen "Traum, zu fliegen", bewahrheitet: Als ob Anton sich auflöste, verliert er zwischen seinem Bewusstsein der Wirklichkeit und seinen Erinnerungen und der "Erinnerung an eine Erinnerung" den Halt: "Sein Körper ist so leicht, als sei auch er nur noch Teil eines Gedankenspiels, Ergebnis einer weiter und weiter sich fortschreibenden Folge von Sätzen zwischen zwei Buchdeckeln." Schuldbewusst ahnt er sich zunehmend in der "Gefahr, aus allen Zusammenhängen wieder ausgestoßen zu werden". Wie aus "Glas" kommt er sich vor: Abweisend kalt und glatt fühlt sich Antons Außenfläche an, durchsichtig ist er, aber unerfüllt, ausgeleert, und dabei sehr zerbrechlich. Michael Thumser

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Yorck Kronenberg: Tage der Nacht. dtv, 255 Seiten, gebunden, 18,90 Euro.