Dass der Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj heute vor 100 Jahren im Provinzbahnhof Astapowo - irgendwo im russischen Nirgendwo - starb, passte so gar nicht zu dem berühmten Schriftsteller, der vom Volk als einer seiner größten Denker, als eine moralische Instanz, ja, wie ein zweiter Zar verehrt wurde. Und es passte auch wieder doch: Der Autor der Weltliteratur-Romane "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" hatte sich in den letzten Wochen immer mehr zurückgezogen aus der Öffentlichkeit und von der Familie: Er war aus seinem Leben ausgebrochen. Dennoch geleiteten Tausende seinen Sarg zwei Tage später vom Zug zu seinem Gut Jasnaja Poljana - dorthin, wo er am 9. September 1828 geboren worden war. Dazwischen lag ein Leben voller Kehrtwendungen und Widersprüche. In der Jugend selbst keineswegs ein Kostverächter, predigte er später beispielsweise sogar Eheleuten Enthaltsamkeit; obwohl Adliger, kleidete sich der Mann mit dem weißen Rauschebart am liebsten in einfache Bauernkutten und entfloh der Gesellschaft; selbst von tiefstem einfachen Gottesglauben beseelt, kritisierte er die orthodoxe Kirche, bis sie ihn schließlich exkommunizierte. Er der einst im Kaukasus als Offizier gekämpft hatte, appellierte in seinen Schriften, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen. Die Identifikation mit dem einfachen Volk war bei Tolstoj indes keine Masche. Nach einem gescheiterten Versuch des jungen Gutsherrn, seine Leibeigenen in die Freiheit zu entlassen, gründete der Dreißigjährige eine eigene Schule auf seinem Gut mit der pädagogischen Maxime von Freiheit und Gleichheit. Gut zehn Jahre später schrieb er voller Enthusiasmus an einem ABC-Buch. "Das fast 800 Seiten starke Werk umfasst außer dem Alphabet einen Teil über Arithmetik und einen überaus umfangreichen Literaturteil sowie Geschichten aus dem Alltagsleben", schreiben Ursula Keller und Natalja Sharandak in ihrer feinen Monografie, in der sie das Leben des großen Russen sehr aufmerksam und für den Leser unterhaltsam aufgearbeitet haben (rororo, 8,95 Euro; Bild). Ein anderes von vielen Büchern, die zum Gedenktag erschienen sind, ist der schön gestaltete Band "Wer das Leben liebt, der liebt auch Gott"; hier werden fünf Erzählungen Tolstojs sechs Gemälde von Wassily Kandinsky zugeordnet; dazu gehört ein Text von Rainer Maria Rilke, in dem dieser seine Begegnung mit dem von ihm hochverehrten Dichter beschreibt (Präsenz-Verlag, 14,95 Euro).