Madrid (dpa) - Seinem 65. Geburtstag (20. September) blickt Javier Marías mit einiger Sorge entgegen. Der Mann, der zu den bedeutendsten und erfolgreichsten spanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt und auch in Deutschland sehr viele Anhänger hat, räumte jüngst bei einem Podiumsgespräch ein: «Je älter ich werde, desto weniger Gewissheiten habe ich.» Er verstehe zum Beispiel «immer weniger, wie Romane gemacht werden». Ungeachtet seiner offen zur Schau getragenen Selbstzweifel zählt Marías in diesem Herbst erneut zu den heißen Anwärtern auf den Literatur-Nobelpreis.
Der Autor von «Mein Herz so weiß» wird nach eigenen Worten immer von «enormer Unsicherheit» geplagt, wenn er ein neues Buch beginnt. Während das vor ihm liegende leere weiße Blatt Papier - Marías benutzt niemals einen PC - dem Madrilenen Unbehagen bereitet, verursacht das fertige Werk ihm zunächst oft Verdruss. «Alle meine Romane erscheinen mir unmittelbar nach der Vollendung schlecht. Ich würde oft am liebsten alle Seiten in den Papierkorb werfen», erzählte der angesehene Literaturhistoriker und Hochschullehrer mehrfach.
Marías geht nicht nur mit sich selbst hart in Gericht. In seinen Kolumnen für die Zeitung «El País» und in Interviews zieht er über Vieles und Viele schonungslos her. Vor allem über Politiker aller Couleur. Dem inzwischen nur noch geschäftsführend regierenden konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy warf er vor, sich mit den drastischen Kürzungen in der Kulturpolitik auf die Spuren der Franco-Diktatur (1939-1975) begeben zu haben.
Mit Blick auf die populistischen Bewegungen von links und rechts spricht der Ex-Kommunist von einem «schrecklichen Rückschritt». Marías kritisiert heute ebenso scharf das Internet («das ist organisierter Schwachsinn»), wie er vor einigen Jahren etliche Verleger als «ignorante Halsabschneider» und als «Zuhälter» attackiert hat.
Der Rebell, der sich in seiner Jugend in Paris als Straßensänger durchschlug, seinen ersten Roman schon mit 19 veröffentlichte und inzwischen in mehr als 40 Sprachen übersetzt wird, nimmt keine Auszeichnungen staatlicher Stellen in Spanien an. Er akzeptiert zudem immer noch keine Vorauszahlungen für einen Roman. Seine Erklärung: «Ich würde meine Freiheit verlieren. Und ein Buch, das nicht gelungen ist, nicht in die Schublade stecken können.»
Dass der unbequeme Querdenker in seiner Heimat oft mehr Antipathien als Sympathien weckt, wie er selbst einmal einräumte, verwundert nicht. In Deutschland galt er derweil auch nach dem Durchbruch in Spanien lange Zeit als schwer verkäuflich. Bis «Mein Herz so weiß» im Sommer 1996 rund vier Jahre nach dem Erscheinen der spanischen Fassung in der TV-Sendung «Das literarische Quartett» wie kaum ein Buch zuvor euphorisch und unisono mit Lob überschüttet wurde.
Der 2013 gestorbene «Literaturpapst» Marcel Reich-Ranicki sprach damals vom einem «genialen Buch» und dem «größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». «Mein Herz ...» ging unmittelbar nach der Sendung in Deutschland in nur einem Monat rund 125 000 Mal über die Ladentheke. Die Verkaufszahlen kletterten bis heute auf über 1,2 Millionen. Marías freute sich damals und freut sich heute über den Erfolg in Deutschland, bildet sich aber darauf nichts ein. «Ich bin nicht gut, weil die Deutschen oder andere es sagen.» Es gebe ja Schriftsteller, deren Bücher «nur ein paar tausend Mal verkauft wurden und in die Geschichte eingegangen sind».
Der in Madrid geborene Autor ist das zweitjüngste von fünf Kindern von Julián Marías. Der bekannte Philosoph (1914-2005) saß als Franco-Gegner zeitweilig hinter Gittern und musste Mitte der 1950er Jahre für einige Zeit in die USA auswandern. Javier Marías wuchs deshalb zweisprachig auf. In den 1980er Jahren unterrichtete er an der Oxford-Universität. Die Erlebnisse in Großbritannien arbeitete er im Roman «Alle Seelen oder die Irren von Oxford» (1989) auf. Marías' Werk umfasst nicht nur Romane, Essays, Kolumnen und Erzählungen, sondern auch viele Übersetzungen aus dem Englischen.
Zu den literarischen Markenzeichen des begeisterten Anhängers des Fußball-Clubs Real Madrid gehören die präzise Sprache, die Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion sowie die weit ausgreifenden Sätze. Er setzt sich mit Themen wie Verrat, Liebe und Begierde auseinander.
Es gibt unter den Kritikern auch «Marías-Verächter», die vor allem durch die surrealistisch anmutende Trilogie «Dein Gesicht morgen» (2002, 2004 und 2006) in ihrer Meinung bestätigt wurden. In dem 1600-Seiten-Monumentalwerk mute Marías dem Leser mit seiner extremen Zeitausdehnung, den unzähligen Variationen, Wiederholungen und Monologen zu viel zu, hieß es. Forderungen, er solle zu einer kompakteren Erzählweise zurückkehren, wurden (sehr) laut.
Marías, der in den 1980er Jahren als «Erneuerer» der spanischen Literatur gefeiert wurde und weltweit mehr als fünf Millionen Bücher verkauft hat, braucht aber niemanden, der ihn kritisiert. Das erledigt er selbst. Schreiben sei ja im Grunde «anormal und komisch», sagte er unlängst. Das habe er in «Die sterblich Verliebten» (2011) beschrieben. Eine Verlags-Angestellte stelle in dem Roman durch den täglichen Kontakt mit Autoren fest, so Marías, «wie lästig, blöd und eingebildet wir (Schriftsteller) sind».