Innere Jugend", sagt Goethe gleich auf einer der ersten Seiten des Romans, sei "keine Frage des Alters, sondern der Aufbruchsbereitschaft". Im Dezember 1809 fühlt sich der berühmteste Dichter Europas "so gut wie tot". Sechzig ist er, ein ziemlich dicker und schon ziemlich alter Herr, Sammlerstück für Fürsten und hochwohlgeborene Verehrer. Darum will Goethe "raus aus dem Goethemuseum", will den alten Dichter loswerden und jugendlich aufbrechen in die Natur, zur Naturwissenschaft. Die hat bisher "die Wolken verschlafen": Nun möchte der prominente Allrounder deren sich wandelnde Formen und Erscheinungen katalogisierend zum System ordnen.

Auch Caspar David Friedrich, als Murrkopf "unwirtlich wie das Elbsandsteingebirge", weiß, dass er Goethe, das geschniegelte Genie, "loswerden" muss. Engelsgeduldig beobachtet und malt er Landschaften und hat erkannt, dass keine Naturwissenschaft das "Naturschauspiel" der Wolken zur Ordnung rufen kann. "Die Forscher mit ihrem Fortschritt zertrampeln die Natur", klagt er. Sonst macht der Maler nur wenige und dann bevorzugt deftige Worte, weil er ahnt, dass "auf Worte kein Verlass" ist. Auf Goethes Worte, Machtworte kann er sich immerhin verlassen: Was und wen der Vielverehrte, von der Oberschicht als oberster Kunstrichter anerkannt, missbilligt und verwirft, gilt allseits als gescheitert. Die Bilder Friedrichs, des "Wolkenglotzers" und "Himmelsschaumschlägers", verwirft Goethe kategorisch: ein "Gottesurteil".

An die "Anatomie der Wolken", die dem neuen Roman Lea Singers den Titel gibt, kann Friedrich nicht glauben: nicht daran, dass sich die lebendige "Welt zerlegen" lasse wie ein Leichnam. Der Maler, ganz Subjekt und Empathie, akzeptiert die unberechenbare Natur als "Wunder". Einfühlsam erkundet die Autorin, wie man die "Luft malt": Auf Friedrichs Seite steht sie, unverkennbar findet sie Gefallen am erdig-knorrigen Gottsucher. Nicht minder unzweideutig ihre Lust, den polierten Poeten als selbstherrlichen Besserwisser zu demontieren: Von seiner glänzenden Oberfläche blättert längst der Lack. Aber nicht lieblos kanzelt sie den Dichter ab, sondern lässt ihn gelten in seiner Wissbegier - und seiner Weitsicht: "Klima wird das Thema der Zukunft sein." Demgegenüber tritt der Maler in den Kapiteln, die Lea Singer ihm widmet, auch schon mal als Kotzbrocken auf.

Das Erzählmuster, zwei große Zeitgenossen eines kulturgeschichtlichen Augenblicks einander gegenüberzustellen, hat die Autorin wohl von der "Vermessung der Welt" übernommen, worin Daniel Kehlmann vor zehn Jahren den Stubenge-
lehrten Carl Friedrich Gauß und den forschenden Globetrotter Alexander von Humboldt aneinander rieb.
Singer aber konfrontiert zwei Epochen, Klassik und Romantik, miteinander; und sie zieht sich,
an jener Zeitenwende, noch konsequenter in die Innenwelt ihrer Protagonis-
ten zurück: Ganz aus der Sicht des jeweiligen Künstlers formuliert sie, in unmittelbar erlebter Rede und oft assoziativ sprunghaftem Telegrammstil.

Und immer behält sie den je anders gearteten "Horizont" im Blick. Bei Goethe ist das die Grenze zwischen seinem kolossalen Ego und dem ehrfurchtsvollen Publikum; bei Friedrich die Berührungslinie von Gott und der Welt. "Gott spricht nicht in Wörtern", tut der Maler kund, "sondern in Wolken." Wer dem Schöpfer in der Schöpfung begegnen will, sollte lernen, in den Wolken "zu lesen". Michael Thumser

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Lea Singer: Anatomie der Wolken. Hoffmann und Campe, 255 Seiten, gebunden, 20 Euro.