HOF -Was heute ist, wird morgen gestern gewesen sein. Gegenwart gibt’s nicht; nur lauter Vergangenheiten. Die prallen im Theater Hof aufeinander und machen es für knapp zwei Stunden zum Dreigenerationenhaus. Drei Paare: Viel haben sie zu tun miteinander, doch sie gehören nicht zusammen; keine „Heilige Familie“, auch wenn das Stück so heißt.

Ironisch, natürlich, meint Autorin Doris Reckewell den Titel. Das Stück selbst ist hier und da so – und wirklich wurde, am Donnerstag bei der reichlich beklatschten Uraufführung, auch gekichert und gelacht im voll besetzten Studio. Hauptsächlich aber sättigt Bitterkeit die weißkalte Atmosphäre zwischen dem unpersönlichen Wohnzimmerschick und der Nüchternheit des Retro-Essplatzes (Ausstattung: Eva Humburg). Was sich in dem versiert gebauten, mehr brisanten als spannenden Sippenspiegel offenbart, ist, des frommen Titels ungeachtet, alles andere als ein trauliches Krippenspiel. Vielleicht muss das so und kann nicht anders sein, vielleicht treibt Reckewell fürs Theater nur auf die Spitze, was im richtigen Leben irgendwie ähnlich zu jeder Familie gehört: Blutsverwandtschaft als Konstrukt aus Unvereinbarkeiten.

Drei Paare: Sechs Menschen arbeiten sich aneinander ab. Peter Kampschulte als Großvater Johannes: einst „Provinzfürst“ mit fataler SS-Laufbahn übers Kriegsende hinaus, später dementer Despot und greinender Greis im Rollstuhl; seine Frau Adele: bei Regula Fischbach ein zur Dienstwilligkeit abgerichtetes Opfer; beider Sohn Thomas (Wolfgang Kaiser): Er hat sein Studium geschmissen, die 68-Revolte verpasst, als Bankangestellter versagt und gibt heute blass den Gutmenschen unter schwarzafrikanischen Elendskindern; seine Exfrau Lea: Jüdin und also vielleicht doch anders, „emotionale“ Künstlerin in Amerika – unter mondäner Kaltschnäuzigkeit bewahrt ihr Angelika Koppmann warme Reste von Anlehnungsbedürfnis; „Bastl“ alias Sebastian, beider „Sohnemann“, ein hartleibiges Weichei: Er hat an der Börse „Scheiße gebaut“ – Jörn Bregenzer, wie gehetzt, verbirgt die bedrohliche Wahrheit unter mürrischer Verkrampfung; endlich Juliane, seine von Nina Machalz kess gespielte, schwangere Frau: eine Hübsche mit Haaren auf den Zähnen, als Theaterregisseurin bereit, die Männer zu instrumentalisieren, beruflich und privat.

Das sind die profanen Spielfiguren jener gar nicht heiligen, nicht schuldlos-unantastbaren Familie: die einen kühl am Zuge, die anderen schon matt gesetzt. Ihre Vergangenheiten macht Ralf Hockes Inszenierung in unterschiedlich weit reichenden, doch übersichtlichen Rückblenden transparent: als Tragödie der Fortpflanzung. Soll man wirklich ein Kind in „diese Welt“ setzen? Ist, der Karriere zuliebe, Abtreibung angezeigt? So geben sich die „Haken“ zu erkennen, die das Ding Familie immer hat: Opas polnische Leichen im Keller, Thomas’ eingeknicktes Rückgrat; Leas taffer Egoismus; die Verantwortungsverweigerung der jungen Leute … Geld, vor allem, ist so ein Haken: Opa, um es zu horten, hat sich kaputtgeschuftet; Enkel Sebastian bräuchte jetzt sehr viel davon; doch Vater Thomas will, die Welt verbessernd, sich damit loskaufen von der Vergangenheit. An Stelle von Emotionen spricht Materialismus sich aus. Vielleicht muss das so und kann nicht anders sein: „perfide, aber konsequent“.

Sechs Rollen: Ungleichmäßig hat Autorin Reckewell sie mit Gewicht und Text versehen. Das Zentrum im durchweg knapp und kenntlich charakterisierenden Ensemble besetzt Wolfgang Kaiser, mit hochkomplexer Schauspielkunst, und auch dramaturgisch: In einem Konfliktmodell, das Söhne mit Vätern konfrontiert, ist einzig er gleichzeitig beides, Vater und Sohn, aufgerieben von zwei Seiten: ein „todtrauriger Mann“.

Früher einmal ist ihm, beim Spielen mit Sebastian, ein toter Bussard auf den Kopf gefallen; oder war’s ein Habicht? Lebendige Raubvögel schweben und jagen, fressen und füttern auf Videoprojektionen, mit denen Regisseur Hocke eine der leer-weißen Wände symbolisch tapeziert: stolze Vögel mit Anspruch auf Freiheit und das Naturrecht, gefährlich zu sein. Unten indes, ganz unten, auf Wohnzimmercouch und Küchenstühlen hocken Krähen beisammen und hacken einander die Augen aus. Im Dreigenerationenhaus ist Feuer unterm Dach: Das kann im richtigen Leben so und kann auch anders sein und kommt jedenfalls in den besten Familien vor.

Nächste Vorstellungen am 29. und 30. Juni sowie am 1. Juli, jeweils um 20 Uhr.