Alles halb so schlimm? Der Schriftsteller Lutz Rathenow, als DDR-Bürgerrechtler von der Stasi eingekerkert, monierte unlängst in einem Zeitungsbeitrag, Jugendliche in den ostdeutschen Bundesländern fänden den untergegangenen Staat ihrer Eltern zwar „peinlich, uncool und blöd“; viel weiter aber reiche die Ablehnung nicht. Weil die Faktenkenntnis nicht viel weiter reicht. Auch Umfragen bestätigen: Unter Schülern in Ost und West herrscht Ahnungslosig- und Gleichgültigkeit. Eine Diktatur – war’s denn eine? Die Mauer – bauten die nicht die Alliierten?

Mithin tut Unterrichtung Not. Die DDR, schreibt Rathenow, war Diktatur und „wollte immer eine sein: Diktatur des Proletariats“. Gegen alle Beschönigung des „Mythos“ DDR zieht er zu Felde; und hat nun einen sachlich informierenden Mitstreiter in dem Journalisten Hermann Vinke. Dessen Buch-Dokumentation „Die DDR“ eignet sich hervorragend dazu, die öffentlich nur halbherzig geleistete Nachbereitung dieses Kapitels jüngster deutscher (Kultur-) Geschichte stärker anzustoßen. Für Jugendliche „ab 13“ empfiehlt der Ravensburger Buchverlag den Band; doch hilft er Heranwachsenden und Erwachsenen jeden Alters bei der korrekten Erinnerung jenseits aller „Ostalgie“.

Wohlfeil abrechnen will der Autor nie: kein Triumphgeschrei über das SED- und Stasi-System, kein Hohngelächter über hilflose Blüten einer verordneten Mode oder gesteuerten Freizeitgestaltung. Möglichst unvoreingenommen betrachtet Vinke das Experiment eines deutschen Staates auf dem Gebiet der Sowjetisch besetzten Zone. Aus der Distanz vollzieht er den „Verrat sozialistischer Ideale und die Ursachen ihres Scheiterns“ nach. Auch auf die westdeutsche Parallelgeschichte lenkt er regelmäßig den Blick und, ebenso oft, auf die „sozialistischen Brüderstaaten“ – auf die übermächtige Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung; auf Tschechien und Ungarn, wo lang vor der friedlichen Revolution von 1989 Volksaufstände blutig scheiterten wie in der DDR 1953 auch.

Zwischen offizieller „Aufbau“-Rhetorik und alltäglicher Mangelverwaltung spannt sich die Darstellung und rekapituliert die gleichschaltende, kalt-kriegerische Militarisierung weiter Lebensbereiche. Die armselige Großmannssucht der Herren Ulbricht, Honecker, Mielke kontert der Autor mit Schlaglichtern allfälliger Kleinkariertheit. Viel zu hoch gesteckten Staatszielen hält er die knappen Mittel der unzulänglichen Wirtschaft entgegen.

Eine Diktatur wird beschrieben: das Unterjochungssystem, mit dem Regierung, Geheimdienste, Staatssicherheit treue Funktionäre, populäre Dissidenten, aufmüpfige Oberschüler klein machten. Aber keineswegs nur als Leidens-, auch als Lebensraum ersteht die DDR. Jugendlicher Nonkonformismus und spießiges Bürgerglück passieren in Texten und Bildern Revue, Westimporte wie Jeans und Rock’n’Rock und der DDR-eigene Konkurrenztanz „Lipsi“ in seiner Chancenlosigkeit, die opferbereite Liebe zum Trabi und der Hunger nach Westfernsehen. Der Alltag der Unfreiheit bot reichlich Platz für die Illusion: Alles halb so schlimm.

Eine „Dokumentation“: Keine umständliche Analyse liefert Autor Vinke, sondern ein seriös beschreibendes, fasslich in Themeneinheiten gegliedertes Gedächtnisalbum. Förderlich dabei: die Kurzbiografien zahlreicher maßgeblicher Damen und Herren – von Thälmann über die Honeckers, Günter Guillaume und Gisela May bis zu Gregor Gysi und Angela Merkel.

In der „Aufbau“-Rhetorik der Wiedervereiniger läuft der Spannungsbogen des stets kritischen, unterhaltsamen, redlichen Geschichtsbuches aus. Für die Deutschen wurde die Instandsetzung ihres Ostens nie zur „Herzenssache“, konstatiert Vinke realistisch. Die Wende hat viele zwischenmenschliche Bindungen zerstört, nicht nur neue geknüpft.

Hermann Vinke: Die DDR. Ravensburger Buchverlag, 256 Seiten, gebunden, 19,95 Euro.