Gelogen wird eigentlich ganz selten. Die Menschen schwindeln, flunkern, finden Ausreden ... Das geben sie zu. Aber lügen? Einem anderen wissentlich die Unwahrheit sagen, ins Gesicht, aus letztlich unlauteren Gründen? Da halten sich die meisten denn doch für zu anständig.

Gelogen wird eigentlich immer. Im Internet, dem verlogensten Reich der Gerüchte, kursiert die Behauptung eines ominösen US-Forschers namens Fraser oder Frazier (oder so), wonach jeder Mensch pro Tag durchschnittlich 200 Mal lügt. Zwar nennen andere Forscher geringere Zahlen und betonen, den Lügnern gehe es seltener um greifbare Vorteile als darum, Eindruck zu schinden, sich sympathisch zu machen. Dennoch: Gelogen wird zu oft.

Einen "Lügenbaron" musste sich der Freiherr Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen nennen lassen; und er war ganz und gar nicht einverstanden damit. Gründete sich sein Ruf doch nicht auf unveresserlichen Verbal-Betrug; vielmehr galt er weithin als charmanter Unterhalter und begnadeter Geschichten-Fabulierer. Bis heute, gut 215 Jahre nach seinem Tod - Münchhausen,1720 in Bodenwerder geboren, starb dort 76-jährig - gehören seine unglaublichen Geschichten zum deutschen Gemeingut, und das nicht obwohl, sondern weil sie mit sich überbietender Dreistigkeit jedem Wirklichkeitsbezug Hohn sprechen. Solche "Lügen" haben lange Beine.

Dass sich der deutsche Offizier in russischen Diensten heldenhaft am eigenen Zopf mitsamt seinem Gaul aus einem Sumpf zog; dass er, auf einer Kanonenkugel durch die Lüfte reitend, die feindliche Front ausspionierte; dass er auf dem Schlitten mit einem Wolf im Zaumzeug über den Schnee jagte, nachdem das Raubtier das Zugpferd im Lauf gefressen hatte - all das sollte niemand glauben, schon als der beredte Baron seinen Gästen derlei Abenteuer auftischte. In ihm kristallisierte sich so etwas wie ein Urbild des deutschen Landaristokraten jener Epoche heraus. Er war eben kein Lügner: Nicht beeindrucken wollte er seine Tafel- und Tabaksrunden; er entlarvte die Ruhmrederei manches Zeitgenossen als Großmäuligkeit, indem er sie mit eigenen Einfällen ins Groteske, Riesige, Monströse übertrieb.

Durchaus erwachsenen Menschen trug er seine Geschichten vor. Nicht zuletzt als Kinderbuch indes blieben sie lebendig. Und natürlich nahm sich das Kino, kaum erfunden, der im Wortsinn spektakulären, weil plastisch anschaulichen und sehenswerten Stoffe an. 1911 schuf der Franzose Georges Méliès - wenn schon nicht der Vater des Films, so doch der des Spezialeffekts - eine erste kurze Lichtspiel-Variation.

Für den bislang populärsten Münchhausen-Film, in dem 1943 der vierschrötige Publikumsliebling Hans Albers eine seiner wirkungsvollsten Hauptrollen gab, zeichneten Joseph Goebbels und Erich Kästner gemeinsam verantwortlich: der Nazi-Chefdemagoge neben dem Nazigegner und inneren Emigranten - eine Paarung von geradezu münchhausenscher Unglaublichkeit. Um das 25. Jubiläum der UFA gebührend zu feiern, schwebte dem Propagandaminister eine Produktion vor, worin fortschrittlichste Tricktechnik die zugkräftigsten Leinwandstars des Reichs in Szene setzte. Kästner schlug vor, auf die Wundermären des imaginationsfreudigen Barons zu setzen. Als notorischer Dissident und "verbrannter Dichter" konnte er das Drehbuch dazu freilich nur unter Decknamen verfassen: Berthold Bürger nannte er sich - und wurde nicht einmal als solcher im Vorspann erwähnt.

An Möglichkeiten, ungeschaute Wesen, Welten und Begebenheiten zu animieren, legten Film und Fernsehen im Computerzeitalter gewaltig zu. Zeitgeistig anglizistisch als "Weihnachts-Highlight" und "bestes Family Entertainment" preist das Erste - wohlgemerkt - deutsche Fernsehen seine neue Vision des "Barons Münchhausen" an. Jan-Josef Liefers - als "Tatort"-Pathologe so erfolgreich wie als untreuer Familienvater in der Uwe-Tellkamp-Verfilmung "Der Turm" - schlüpft an den Feiertagen unter die Perücke und in die Kürassieruniform des bodenwerderschen Landadeligen. Mit dessen Original-Schnurren hat der "Event-Zweiteiler" aber nur abschnittsweise etwas gemein. Denn das Drehbuch verwandelt die eher behagliche Gestalt in einen umtriebigen Glücksritter, Waghals und Weltenbummler und bettet seine episodischen Berichte in eine durcherzählte Rahmenhandlung ein. In ihr schließt sich ein elfjähriges Zirkusmädchen dem Draufgänger an, der sich mit ihm, in St. Petersburg und andernorts, auf die Suche nach der Mutter macht.

Münchhausen, ob durch seine eigenen Schwänke oder durch die von fremder Hand: Als Erfinder ging er ins kollektive Gedächtnis ein, nicht als Heuchler. Nichts Fingiertes machte er die Menschen glauben; mit Fiktionen erfreute er sie. Zum Wurzelwerk der Literatur gehört solche Art oral poetry: Einer Dichtung, die sich zunächst von Mund zu Mund überlieferte, verdanken sich die Mythen der Bibel, die Märchen der Welt, die deutschen Volksbücher.

Dass ausgerechnet Münchhausen, dem die Gesetze von Natur, Materie und Wahrscheinlichkeit scheinbar nichts gelten mussten, im deutschsprachigen Schrifttum des doch so aufgeklärten 18. Jahrhunderts zum Protagonisten eines Bestsellers aufwuchs, das verdankt sich dem Dichter Gottfried August Bürger (seinen Nachnamen entlieh sich Erich Kästner gut 150 Jahre später respektvoll für sein Pseudonym). In Göttingen legte der - anderweitig vor allem als Balladen-Autor hervorgetretene - Poet 1786, mithin zu Lebzeiten des Barons, dessen "Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande" als Buch vor. Etliche der "Feldzüge und lustigen Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegte", hatte sich Bürger selber ausgedacht.

Den Kernbestand entnahm er, übersetzend und ausfeilend, der im Vorjahr erschienen britischen Ausgabe "Baron Munchhausen's Narrative of his marvellous Travels and Campaigns in Russia". Wiewohl auf Englisch abgefasst, stammt sie gleichfalls von einem Deutschen: von Rudolf Erich Raspe. Der hatte, weil er als Leiter einer fürstlichen Sammlung Kunstschätze unterschlug, aus der Heimat fliehen müssen. Raspes und Bürgers Kenntnis münchhausenscher Sensationsberichte geht auf teils anonyme Veröffentlichungen einzelner Schwänke zurück, wie sie der Freiherr selbst vortrug.

Wer ihm an den Feiertagen im Fernsehen begegnet, der mag sich neu die Frage nach dem Wesen der Unwahrheit stellen. Weihnachten, das Fest des Friedens - in einer Welt wie dieser? All die Familien vor den Christbäumen: Erliegen sie einer Vorspiegelung falscher Tatsachen? Nehmen sie hinterm schönen Schein Deckung vor den Unannehmlichkeiten der Realität? Verkauft der seine Kinder für dumm, der ihnen von Nikolaus und Christkind erzählt?

Wohl kaum. Nicht fadenscheinige Flunkerei, sondern herzliche Fantasie verbirgt sich in jenen Geschichten, die so wenig schwindeln wie ein Märchen. Und die Legende vom neugeborenen Jesus, der in der Krippe liegt als der Messias, der Heiland der heillosen Welt, wartet nicht schönfärberisch mit einer Ausrede auf, sondern ist höhere Wahrheit: gute Nachricht, Evangelium.

Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande.

Münchhausens Abenteuer


Event-Zweiteiler als bestes Family Entertainment.

Aus der Ankündigung der ARD


Bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde erzählt.

Die Entstehung der Geschichten


Münchhausen

... im Fernsehen: "Baron Münchhausen" (Regie: Andreas Linke), ARD, Teil 1 am Dienstag, Teil 2 am Mittwoch, jeweils von 17.45 bis 19.15 Uhr.

... im Buch: Gottfried August Bürgers Geschichtensammlung gibt es zum Beispiel preiswert als Taschenausgabe des Reclam-Verlags (173 Seiten, kartoniert, 4,60 Euro) oder von Erich Kästner für Kinder nacherzählt im Dressler-Verlag (110 Seiten, gebunden, 7,50 Euro).

... im Internet: Bürgers Buch ist als Volltext online im Projekt Gutenberg zu lesen (gutenberg.spiegel.de/buch/620/1).

... im Museum: in der "Schulenburg" des Gutshofes in Bodenwerder (Landkreis Holzminden).