BAMBERG - Die amerikanische Kriminalschriftstellerin und auf der ganzen Welt gelesene Bestseller-Autorin Donna Leon wurde 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Schon mit 23 verließ sie die USA, um in Italien zu studieren. Sie arbeitete als Autorin und Lehrerin für Englisch und Literatur unter anderem in England, in der Schweiz, in China, dem Iran und Saudi-Arabien. 1981 nahm sie eine Stelle als Lehrerin auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Vicenza nahe Venedig an. Seitdem lebt sie in der Lagunenstadt.

Donna Leon, deren Bücher in 23 Sprachen übersetzt wurden und weltweit in Millionen-Auflagen erschienen sind, ist vor allem in Deutschland eine der meistgelesenen Autorinnen. Alle ihre Romane spielen in ihrer Wahl-Heimat Venedig, wo ihr Commissario Guido Brunetti in schöner Regelmäßigkeit seit 1992 jedes Jahr einen Mordfall klärt.

Wir hatten Gelegenheit, mit Donna Leon bei ihrem Besuch in Bamberg vor einigen Tagen ein ausführliches Exklusiv-Interview zu führen. Hier das Gespräch im Wortlaut.

Frau Leon, Sie sind heute schon ein bisschen in Bamberg unterwegs gewesen, nicht wahr? Sicher sind Sie auf das Stadtviertel an der Regnitz aufmerksam gemacht worden, das die Einheimischen „Klein-Venedig“ nennen.

Donna Leon: Das bin ich allerdings. Mir scheint, jede Stadt, die vier Tropfen Wasser zu bieten hat, hat ein Stadtviertel, das so heißt. Ich habe das auch meinem Begleiter von der Buchhandlung Hübscher, Herrn Michael Genniges, gesagt: Als ich vor dreißig Jahren als Lehrerin in China gearbeitet habe, hat man mir auch gesagt, die Stadt Suzhou bei Shanghai sei „Das Venedig des Ostens“. Und die hatten gerade mal zwei Kanäle. Also, tut mir leid, aber ich glaube nicht an „Klein-Venedig“.

Das ist jetzt aber sehr schade, denn ich wollte fragen, ob Sie nicht Commissario Brunetti dazu überreden könnten, mal einen Fall im Ausland zu übernehmen. Einen kleinen Fall in „Klein-Venedig“. Dann könnte Bamberg über Nacht berühmt werden.

Ah, ich verstehe. Ich muss sagen - allein von dem Eindruck unseres kleinen Spaziergangs heute Nachmittag durch die Stadt und hinauf zum Dom -, dass Bamberg den Vergleich mit keiner Stadt zu scheuen braucht. Es ist wunderschön.

Oh, vielen Dank.

Nein, ehrlich. Es ist wunderschön. Ich würde mich freuen, wenn ich noch mal hierher kommen könnte.

Ohne Signore Brunetti. Denn der bleibt wohl lieber beim Original, dem echten Venedig. Als Sie zum ersten Mal dorthin kamen, haben Sie sich offenbar auf den ersten Blick in die Stadt verliebt, oder?

Das stimmt allerdings. Aber das ist schon lange her und Venedig war damals eine andere Stadt. 1967 war ich das erste Mal da. Die Stadt war damals ganz anders... Nein: Die Stadt war dieselbe, aber das Leben in der Stadt war ganz anders als heute.

Und diese Unterschiede überraschen Sie immer noch?

Ja, nachts.

Wieso gerade nachts?

Ich gehe immer noch oft nachts allein zu Fuß nach Hause. Dann bemerke ich Dinge. Tagsüber muss man seine Augen auf dem Weg haben, weil man sich ständig bemühen muss, nicht mit jemandem zusammenzustoßen. Aber nachts, wenn keine Leute auf den Straßen sind, kann man sich umschauen und aufschauen zu den Fenstern, den Fassaden oder Denkmälern, die man zuvor noch nie wahrgenommen hat. Ich finde die Überraschungen, die Venedig noch für mich bereit hält, immer nur nachts.

Tagsüber ist keine ruhige Minute für so etwas?

Nein.

Nicht mehr? Oder hat es das auch früher nicht gegeben?

Nein, nein. Das hat es schon gegeben, bis vor etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren. Aber jetzt ist die Ruhe weg. Verschwunden.

Glauben Sie denn, dass Venedig versinken wird? Nicht im Wasser vielleicht, sondern in einer Flut von Touristen?

Das ist längst passiert. Venedig ist bereits untergegangen.

Gibt es da keine Abhilfe.

Nein.

Wird es denn wirklich immer schlimmer?

Ja, schlimmer und schlimmer, jedes Jahr. Und es gibt kein Mittel dagegen. ... Die Cholera vielleicht. Oder die Pest.

Commissario Brunetti mag die Touristen ja auch nicht gerade. Oder besser: Sie mögen sie nicht und Sie sprechen das durch ihn aus.

Es ist gar nicht so, dass die Venezianer die Touristen nicht mögen. Also die einzelnen Individuen, die meist sehr nett, sehr respektvoll sind und überglücklich, ein Mal im Leben in Venedig zu sein. Das ist es nicht. Das Problem ist die Masse. 80.000, 100.000, bis zu 200.000 Menschen pro Tag, die in eine Stadt strömen, die nur 64.000 Einwohner hat.

Wie Bamberg...

Genau. Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn Sie jeden einzelnen Tag des Jahres sagen wir nur 30.000, 40.000 oder 50.000 Besucher in der Stadt hätten? Sie würden verrückt werden. Und dann würden Sie bemerken: Die Reinigung an der Ecke hat zugemacht. Und der Mann, der die Schuhe repariert, ist nicht mehr da. Und die kleinen Läden, die Honig und Milch und Brot verkaufen, würden schließen.

Das tägliche Leben bliebe auf der Strecke und die Geschäftswelt würde sich den Touristen zuwenden.

Ja, so würde es kommen. Dann wären Sie nicht mehr wichtig.

Und die Leute, die früher in den Läden gearbeitet hatten, würden wegziehen. Die bleiben dann auch nicht.

Genau. Das ist genau was passiert. Nicht nur in Venedig. Das geschieht in jeder touristischen Stadt, in Siena oder – in abgeschwächter Form – Florenz, weil Florenz größer ist. Aber es geschieht definitiv in Venedig.

Sind Sie manchmal enttäuscht von dem Mangel an Kultur, den die Touristen an den Tag legen. Ich meine, wenn die nur durch die Einkaufspassagen latschen und billige Souvenirs kaufen und überhaupt nicht auf die Schönheit der Stadt achten?

Ja, diese Beschreibung mag für manche dieser Leute sicher stimmen. Aber sie stimmt genauso für Italiener, die nach New York fahren. Die wollen das Rockefeller Center sehen und auf der Fifth Avenue shoppen gehen. Und mal bei Bloomingdale’s reinschauen. Die wollen nicht ins Metropolitan Museum, die wollen nicht ins Guggenheim, die wollen nicht ins MoMA. Ich habe schon Leute gehört, die sagten, sie seien nach Venedig gekommen, weil sie shoppen gehen wollten. Das erscheint mir ja fast kriminell: Wenn jemand zwei Tage in Venedig hat und einen davon damit verbringt, Einkaufen zu gehen... Wenn man an einem der wunderbarsten Orte der Welt ist, wie kann man dann nur an Shopping denken? Aber das geht mich eigentlich nichts an, ich habe nicht die Entscheidungen anderer Leute zu treffen. Sollen sie mit ihrer Zeit machen, was sie wollen.

Vielleicht setzen sie über auf die alte Glasbläser-Insel Murano, wo Ihr neues Buch spielt, und kaufen billigen Glas-Tand aus China...

...oder Indonesien. Ja, so ist das.

Aber es gibt ja inzwischen auch Leute, die Venedig wegen Donna Leon besuchen. Es gibt spezielle Urlaubsreisen, Reiseführer, Stadtpläne mit Schauplätzen aus ihren Romanen. Das waren ja früher mal Ihre Lieblingsplätze. Aber das können sie ja wohl jetzt nicht mehr sein, wenn da alle nur sitzen und darauf lauern, dass Donna Leon tatsächlich vorbeikommt. Ihr Venedig muss doch geschrumpft sein.

Nein, nein, nein. Wissen Sie, ich lebe in einem relativ abgeschiedenen Teil der Stadt. Außerdem versuche ich, alle Besorgungen bis zehn Uhr morgens erledigt zu haben. Dann gehe ich heim und bleibe zu Hause bis zum Abend.

Aber die Fans wissen schon, wo Sie wohnen?

Gut, manche schon, aber die meisten...

..die meisten gehen zu Commissario Brunettis Haus, das ist leichter zu finden.

Ja, das findet man gleich.

Sie haben also nicht Ihre eigene Gegend als Domizil für Brunetti gewählt?

Glücklicherweise nicht.

Aber Sie können schon nachvollziehen, dass manche Besucher „Donna-Leon-Momente“ haben, wenn sie an bestimmten Plätzen stehen und sich an Szenen aus den Büchern erinnern und an die Gefühle, die sie beim Lesen hatten?

Aber ja, natürlich. Das ist doch ein sehr schönes Gefühl, dass die Leser so enthusiastisch auf meine Bücher reagieren. Das ist für mich sehr schmeichelhaft.

Vor zwanzig Jahren fuhren die Besucher nach Venedig, standen einfach nur staunend am Ufer des Canal Grande und genossen den grandiosen Anblick. Damals dachte noch niemand: „Wow, was für ein großartiger Ort, um eine Leiche loszuwerden.“ Das haben Sie nach Venedig gebracht.

Das Verbrechen.

Venedig ist ja ein Ort, wo fast nie ein Mord geschieht.

Das stimmt, es kommt praktisch überhaupt nicht vor.

Wie viele echte Morde gab es denn in den 26 Jahren, seit sie nach Venedig gezogen sind?

Also in den letzten beiden Jahren kann ich mich an zwei erinnern. Nein, drei.

Das sind ja mehr, als in Ihren Büchern, da gibt es nur einen Mord pro Jahr...

Ja, aber meist wird in Büchern mehr gemordet als im wahren Leben.

Wie kamen Sie denn dazu, gerade in einer so wunderbaren Stadt wie Venedig ans Verbrechen zu denken?

Weil es ein perfekter Schauplatz ist. Wir sind kulturell so geprägt, dass wir dazu neigen, Dinge zu verwechseln und misszuverstehen. Wir wollen glauben, dass Schönes auch gut sein muss. In unserem Bild ist der Übeltäter immer ein hässlicher Typ, der Held ist stets gut aussehend. Die Böse ist immer unattraktiv, die Heldin stets eine hübsche Frau. Diese Kombination von gut und schön wird uns mit unserer kulturellen Erziehung mit auf den Weg gegeben. Wenn man jetzt eine Stadt nimmt, die in manch einer Hinsicht die wundervollste Stadt der Welt ist, und sie zum Schauplatz von Korruption und Verbrechen macht, dann schafft man eine Art von paradoxer Situation, die interessant und ungewöhnlich ist. Das funktioniert, und zwar weil man sich auf dieses kulturell geprägte Vorurteil verlassen kann, das wir alle herumtragen.

Und warum die Form des Kriminalromans?

Wohl, weil ich eine gelernte Akademikerin war. Während meiner ganzen Zeit als Lehrerin, als wir Henry James, Edith Wharton und Jane Austen im Unterricht lasen, wollte ich einfach abends nur entspannen. Und da habe ich Kriminalromane gelesen. Diese Romane haben eine Art festes Gerüst, eine Formel. Als ich dann auf die Idee kam, selbst ein Buch zu schreiben, schien mir das die Form zu sein, der ich auf die klarste Weise folgen konnte. Es gab ja die bestimmten Regeln, was man machen muss. Hätte ich einen richtigen Roman geschrieben, hätte ich keine Regeln gehabt, an die ich mich hätte halten können. Austens „Stolz und Vorurteil“ kennt keine Regeln, Whartons “Das Haus der Freude“ auch nicht. Deshalb habe ich mir den Kriminalroman ausgesucht.

Und dann brechen Sie die Regeln einfach. Ein Donna-Leon-Buch ist ja nicht nur eine Wer-war-der-Täter-Geschichte, da steckt schon ein bisschen mehr drin.

Wer’s war, das interessiert doch keinen mehr.

Und ob man ihn erwischt und verurteilt... Deshalb packen Sie wohl die größeren Zusammenhänge mit in Ihre Bücher und versuchen, bestimmte Themen zu transportieren?

Diese größeren Dinge sind mir wichtig. Das individuelle Verbrechen ist doch meist das Ergebnis niedriger Motive. Eifersucht. Wut. Zorn. Lust. Gier. Aber die Verbrechen, die mich interessieren, entstehen eher aus kaltblütigeren Motiven heraus. Unpersönlicheren Motiven. Darüber zu schreiben, finde ich interessanter.

Motive, die mit der Gesellschaft zu tun haben?

Genau! Geld. Macht. Ansehen.

Gibt es denn so viele Millionäre und Machtmenschen in Venedig. Die alten Familien vielleicht?

Da haben wir schon eine hübsche Anzahl, ja. Aber die sind sehr diskret. Venezianer sind außerordentlich diskret, wenn es darum geht, was sie haben und wie sie dazu gekommen sind. Also Typen wie den klassischen texanischen Öl-Millionär wird man in Venedig selten finden. In Mailand schon eher, da gibt es diese nach außen gewandten Leute, aber in Venedig sicher nicht. Mir kommt jetzt niemand in den Sinn, der bekannt dafür wäre, dass er unverschämt reich ist. Es gibt sehr, sehr reiche Leute, weil viele der Familien einiges an Grundbesitz haben, in der Stadt und in der Umgebung. Aber dieses Angebertum, dafür gibt es in Venedig kaum Anzeichen.

Aber diese Menschen haben immer noch die Kontrolle über die Stadt. Und die nutzen sie auch, selbst wenn es gegen das Gesetz verstößt. Da eine kleine Gefälligkeit, dort ein wenig Bestechungsgeld...

Na, das ist ja nichts typisch Venezianisches. Gestern war ich zum Beispiel in Braunschweig. Die haben da ein enormes neues – also nach meinem Geschmack auch völlig unnötiges – Einkaufszentrum gebaut. Der Wiederaufbau des Residenzschlosses ist als Kaufhaus verwirklicht worden. Und was ich so gehört habe, waren viele Menschen gegen das Projekt. Weil ein Einkaufszentrum das Letzte ist, was irgendeine Stadt in Europa braucht. Also ich würde jetzt mal raten, dass da gewisse Gefälligkeiten ausgetauscht worden sein könnten, um die Erlaubnis zu bekommen, so etwas zu bauen, die Erlaubnis, ein historisches Baudenkmal in ein Kaufhaus zu verwandeln. Ich denke, diese Art von „Geschäften“ ist ziemlich international. Da können Sie in jedes beliebige Land fahren, eine Zeitung aufschlagen und lesen, dass jemand jemand anderem einen kleinen Gefallen getan hat.

Aber für ein Buch ist natürlich der Schauplatz enorm wichtig. Und Venedig ist zweifellos die heimliche Heldin Ihrer Bücher.

Ja, das glaube ich auch.

Über Braunschweig würden Sie nicht schreiben wollen?

Das könnte ich ja gar nicht. Deswegen spielen die Bücher ja alle in Venedig. Als ich anfing zu schreiben, war Venedig der einzige Platz, wo ich als erwachsener Mensch lange genug gelebt hatte. Es ist der einzige Ort, bei dem ich mich wohlfühle, wenn ich darüber schreibe. Weil es der einzige Ort ist, wo ich lange genug war, um zu wissen, wie die Stadt funktioniert. Und die Leute kennen, die dafür sorgen, dass sie so funktioniert.

Aber Sie haben doch mal gesagt, dass Sie für Ihre Bücher gar nicht recherchieren. Sie würden nicht in irgendwelche Archive steigen, um Informationen zu sammeln. Sie gingen stattdessen mit Freunden zum Essen aus. Und da würden Sie alle wichtigen Geschichten erfahren.

Und so ist es auch. Absolut. Man liest die Zeitungen, die Nachrichtenmagazine – und hier kann ich nur für Italien und die Vereinigten Staaten sprechen, aber: Was man liest, ist nicht die Wahrheit. Es ist eine Interpretation der Wahrheit. Es ist nur eine Wahrheit. Und die Bücher bieten Ihnen den Vorschlag einer anderen Wahrheit an.

Und diese andere Wahrheit kommt aus den Gesprächen mit Ihren Freunden?

Sie kommt aus Klatsch und Tratsch, ja. Weil viele meiner Freunde aus Familien stammen, die seit fünfhundert, sechshundert Jahren in Venedig leben. Als ihre Großeltern zur Schule gingen, waren deren Großeltern die Mächtigen der Stadt. Und das hat sich fortgesetzt. Diese Leute hören Dinge und wissen Bescheid über Dinge. Es ist ja nur eine kleine Stadt, genau wie Bamberg. Wenn Sie hier als Journalist über irgendjemanden etwas herausfinden wollten, bräuchten Sie doch nur ein paar Telefonanrufe machen.

Ich würde es zumindest versuchen...

Klar. Und Sie würden ein paar interessante Sachen herausfinden. Sie würden wieder eine andere Wahrheit finden.

Eine andere Facette derselben Wahrheit.

So ist es.

Sie benutzen diese Konstellation über Brunettis Frau Paola, denn die stammt ja aus so einer alteingesessenen venezianischen Familie mit all den uralten Verbindungen.

Das war doch ein Glück, dass ich sie so geschaffen habe.

Paola ist sehr liberal und sehr modern, auf eine inzwischen ganz unmoderne Weise modern...

Ja. (Donna Leon lacht.) Sie ist so richtig altmodisch modern.

Das ist ja gerade sympathisch. Die neuen Modernen sind ja diese globalisierten Denker.

Und die mag Paola überhaupt nicht.

Es heißt ja oft, sie würden durch Brunetti sprechen. Aber sprechen Sie nicht eher noch durch Paola?

Nein, ich spreche durch alle beide. Ein Beispiel wäre das Buch, wo sie den Stein ins Fenster dieses Reisebüros werfen will, das als Deckmantel für Arrangements für Sex-Touristen herhält, Menschenhandel organisiert und Porno-Gewaltvideos vertreibt. Paola hat diese instinktive Antwort, die viele Leute haben, wenn sie von schrecklichen Dingen erfahren. Diese natürliche Antwort ist Gewalt und Vergeltung. Genau aus diesen irrationalen Gründen ist dieser vierte Brunetti-Roman „Vendetta“ mein Lieblingsbuch. Weil sich dann tatsächlich eine Frau aufmacht, und die Hintermänner ermordet. Sie sieht, dass diese Typen grundschlecht sind, aber es auf Grund ihrer gehobenen gesellschaftlichen Stellung keine Möglichkeit gibt, dass Recht und Gesetz ihnen gefährlich werden könnten. Also nimmt sie die Sache selber in die Hand. Das kann ich nachvollziehen. Aber dann kommt die Seite von mir ins Spiel, die vernünftiger und ruhiger ist. Und mitfühlender. Die schreitet dann ein und sagt: „Es gibt so etwas wie Gesetz, Schätzchen. Du erinnerst dich doch daran, an das Gesetz, oder?“ Aber ich fühle mich – vermutlich, weil ich Amerikanerin bin – zu dieser impulsiven Art von Selbstjustiz schon stark hingezogen. Wie Paola auch. Aber ich weiß, dass man das nicht tun darf. Dass das falsch und dumm ist. Trotzdem gerate ich immer wieder in Versuchung.

Sie selbst würden diesen Stein also nie werfen? Aber Paola lassen Sie das durchgehen?

Nein, ich würde den Stein nicht werfen, weil ich nicht all den Ärger haben möchte. Weil ich in diesem Land als Ausländerin lebe. Aber wenn ich dabeistünde, würde ich argumentieren, die Frau hätte recht gehandelt, den Stein zu werfen. Ich wäre überzeugt, dass sie das Recht dazu gehabt hätte. Aber nur in diesen sehr eng begrenzten Umständen.

Wenn die Emotionen hochschlagen...

Ja.

Ärger vermeiden Sie ja tatsächlich, weil Sie verfügt haben, dass Ihre Bücher nicht in italienischer Sprache veröffentlicht werden dürfen.

Nein, nein. Das hat absolut nichts damit zu tun, Ärger zu vermeiden. Oder mit Angst. Absolut nicht, das ist Unsinn.

Wird aber doch immerzu geschrieben...

Mag schon sein, aber ich habe das nie gesagt. Weil es einfach nicht stimmt. Ich bin überzeugt, es steht eine ganze Menge geschrieben, das ich nie gesagt habe. Ich habe in den letzten paar Tagen bei Gesprächen mit Journalisten viele Gründe erfahren, warum meine Bücher angeblich nicht in Italien herauskommen. Diese Gründe stammen aus einer Reihe von Interviews, die ich nie gegeben habe. Einmal heißt es, ich hätte Angst vor der Mafia, dann wieder, ich würde die Reaktion der italienischen Leser fürchten und weitere unsinnige Gründe. Der wahre Grund ist folgender: Meine Bücher werden in Italien nicht veröffentlicht, weil ich, dort wo ich wohne, eine unauffällige, anonyme Person bleiben will, die ein friedliches Leben führt. Jemand, der keine Bekanntheit genießt. Ich möchte nicht da berühmt sein, wo ich lebe. Das ist alles. Ich denke nämlich, dass den Leuten das Berühmtsein nicht gut bekommt. Auf diese Art kann ich das zumindest da vermeiden, wo ich wohne.

Wem bekommt das Berühmtsein nicht? Den Berühmtheiten? Oder den Leuten, die mit Berühmtheiten umgehen müssen?

Um die kann ich mir keine Sorgen machen. Nein, es geht um mein Leben. Ich will diese Art Spezialbehandlung nicht, die berühmten Menschen zuteil wird. Das mag ich nicht. Ich fühle mich dabei sehr unbehaglich. Ich komme damit zurecht, wenn ich im Ausland unterwegs bin. Aber leben will ich lieber dort, wo ich so behandelt werde wie alle anderen auch. Und das geschieht nicht, wenn man eine Berühmtheit ist.

Die Italiener behandeln Sie also wie eine Nachbarin?

Ja. Ich werde behandelt wie jeder andere Einwohner auch. Mein Müll-Mann duzt mich und mein postino, Mario, duzt mich ebenfalls. Wenn ich einen Einschreibebrief bekomme, dann geht er nicht etwa die 62 Stufen zu meinem Appartement hinauf, er lässt mich hinunterkommen, um sein Formular zu unterschreiben. Er geht ja den ganzen Tag Treppen hinauf und hinunter. Ich werde von den meisten Leuten in der Stadt, die ich kenne, als Freund behandelt. Würden die Bücher in Italien veröffentlicht, würde sich mein Leben verändern. Ich würde bekannt sein, eine Berühmtheit – unabhängig davon, ob sie die Bücher mögen würden oder nicht. Sie würden von den Büchern wissen und ihnen würde dämmern, dass ich eine berühmte Person bin. Es ist unmöglich, dass diese Situation für mich irgendeinen Vorteil bringen könnte. Es ist ja in Ordnung, wenn mich Touristen auf der Straße in Venedig ansprechen und sagen: „Ich kenn’ Sie doch, Sie sind doch Tina Turner. Und ich sage: Stimmt.“ Aber das sind Menschen, die kommen und gehen. Was ich nicht will, ist, dass Menschen, die mich seit langer Zeit kennen, manche seit vierzig Jahren, plötzlich anfangen würden, mich mit anderen Augen zu sehen. Wenn das geschähe, würde ich mich sehr unwohl fühlen. So lange ich das kontrollieren kann, werde ich das tun. Ich bin die meiste Zeit in Venedig und möchte dort ein ungestörtes, nein, ein nicht herausgehobenes Leben führen. Das ist der wahre Grund, warum die Bücher nicht ins Italienische übersetzt werden. Ich sage: „Entschuldigt, liebe Italiener. Ihr sollt sie nicht lesen.“

Aber wenn Italiener Ihre Romane dann doch lesen, in einer anderen Sprache?

Dann bin ich irrsinnig neugierig. Ich will dann schon von ihnen wissen: „Stimmt das, was ich da schreibe?“ Ob jemand das Buch mag oder nicht, das geht nur denjenigen etwas an, das ist nicht meine Sache. Aber es ist mein Anliegen, dass das stimmt, was ich aussage. Praktisch alle waren der Meinung: „Ja, was sie über Italien schreiben, ist die Wahrheit.“ Meine wirkliche Sorge - was die Italiener, und vermutlich alle Leser anbelangt - ist, dass sie übersehen, dass all die Anspielungen auf Verbrechen und Korruption in einen Kriminalroman hineingehören. Dafür braucht man eine korrupte Gesellschaft. Aber ich hoffe, die Leser können durch das hindurch trotzdem noch erkennen, wie wahrhaft und tief meine Liebe zu den Italienern und zu ihrem Land war und ist. Ich möchte, dass ihnen die Bücher vermitteln, dass es die größte Freude meines Lebens ist, in diesem Land zu wohnen. Ich liebe es und ich liebe die Italiener.

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