Österreich war "angeschlossen": Am 12. März 1938 hatte Adolf Hitler die Wehrmacht seines "Dritten Reichs" im Nachbarland, seiner Heimat, einmarschieren lassen. Vier Tage später, gegen zehn Uhr abends, betraten im 18. Wiener Bezirk zwei SA-Männer, nach Juden sich umsehend, vorn eine Wohnung - und hinten sprang ein Mann aus dem Fenster. Am morgigen Samstag vor 75 Jahren nahm sich Egon Friedell, einer der leuchtenden Geister der deutschen Sprachwelt im 20. Jahrhundert, das Leben, nicht ohne sich vor seinem Todessturz um das Wohl der Passanten zu sorgen: "Zur Seite", schrie er ihnen warnend zu. In vielen Sätteln war Friedell gerecht, als trinkfester Bonvivant in den literarischen Kaffeehäusern wie als Kabarettist, als Theaterautor und -akteur, -dramaturg und -kritiker. Zuallererst aber verbindet sich sein Name mit der berühmten "Kulturgeschichte der Neuzeit", die er zwischen 1927 und 1931 in drei Bänden veröffentlichte; einen ganz subjektiven, dabei ungemein erhellenden Über- und Durch-Blick warf er darin auf die "Krisis der europäischen Seele" seit der Renaissance. "Dass die Dinge geschehen, ist nichts; dass sie gewusst werden, ist alles." Wie imponierend viel Friedell gewusst hat und verstand, belegt jetzt auch ein Band mit ausgewählten Essays zu Geschichte und Politik, Philosophie und Religion, Literatur und Theater nebst umfänglichen Ausschnitten aus der "Neuzeit". "Vom Schaltwerk der Gedanken" - so der Titel (Diogenes-Verlag, 697 Seiten, gebunden im Schmuckschuber, 29,90 Euro) - nimmt der Leser tief beeindruckt Kenntnis und spürt sie in der feuilletonistisch fesselnden, stilsicher abgeklärten Sprache stets ideenreich sich regen. Wolfgang Lorenz gab der Sammlung ein ehrerbietiges Charakterporträt als Nachwort bei, worin er die Kennerin Hilde Spiel zitiert: "In Friedell stand noch einmal die berauschende Fiktion vom universalen Menschen vor uns auf." Vor ihm muss, sogar nach 75 Jahren, so mancher überschätzte Schreiber in Demut "zur Seite" treten.