Töpen - Pfarrer Gerhard Schneider bringt auf den Punkt, was alle am Freitagabend in der St.-Martinskirche empfinden: "Reiner Kunze in Töpen - der absolute Hammer!" Der bekannte Schriftsteller ("Die wunderbaren Jahre") Drehbuchautor, Übersetzer und Träger des bedeutenden Georg-Büchner-Preises fasziniert nicht erst, wenn er aus seinen Büchern vorliest. Schon, als er anfangs aus seinem bewegten Leben berichtet, fesselt der 78-jährige zierliche Mann sein Publikum. So leise er auch spricht, so ungeheuer groß ist die Energie, die er ausstrahlt.

Geboren in Oelsnitz

Ganz nahe ist der 1933 in Oelsnitz geborene DDR-Dissident, der heute in der Nähe von Passau lebt, seiner Heimat an diesem Abend gekommen, und aus der Zeit, da er und seine Familie in Greiz oder im Vogtland gewohnt haben, erzählt er auch. Nicht ohne Grund.

Vor vierzig Jahren, als er in Klingenthal das Buch "Der Löwe Leopold" für seine kranke Tochter schrieb, funkte die Staatssicherheit dazwischen. Das Buch, das er bei der Leipziger Buchmesse einer Mitarbeiterin des S. Fischer-Verlags übergab, wurde im Westen gedruckt. In die DDR durfte es - als anti-sozialistisch zensiert - jedoch nicht eingeführt werden; nicht einmal das erste Exemplar, das der Verlag an die kleine Tochter Kunzes geschickt hatte, erreichte die Adressatin. Als Honecker an die Macht kam, lockerten sich die Verhältnisse etwas, "Der Löwe Leopold" fand plötzlich Gnade von den Augen des Regimes, und 15 000 Exemplare sollten drei Jahre später in den DDR-Buchhandel kommen. "Aber da hatte sich die Politik schon wieder geändert, und die 15 000 Exemplare wurden vernichtet." Nur ein in der DDR gedruckter "Löwe" fand durch einen anonymen Freund den Weg zu den Kunzes - in einer Brot-Tüte vom Bäcker.

"Für Kinder schreiben heißt, sie auf die Tragik des Lebens vorzubereiten, ohne sie traurig zu machen. Das ist das Schwierigste in meinem Beruf, und - wenn es gelingt - auch das Beglückendste." In diesem Bewusstsein schreibt Reiner Kunze Literatur für Kinder - Prosa und Lyrik, damals wie heute. Dabei begnügt er sich nicht mit Spannung und Abenteuern; Kunze, der offensichtlich den Kontakt zu seinem jungen Publikum rege pflegt, schreibt für sie Geschichten, die in die Tiefe gehen.

Geschichten mit Tiefe

Vom "Löwen Leopold" liest er in Töpen einen Ausschnitt aus der Geschichte "Der Drachen Jakob". In der Szene auf einem Provinzpostamt stellt er höchst amüsant die Schwerfälligkeit deutscher Post-Beamter dar, die nicht wissen, wie mit einer Postkarte umzugehen ist, die nicht ihren Normen entspricht; erst eine praktische Putzfrau weiß Rat.

Dieser vierzig Jahre alten Geschichte für Kinder lauschen am Freitag in der Kirche auch alle Erwachsenen wie gebannt. Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass wohl keiner die Sprache Reiner Kunzes so (vor-)lesen kann wie Reiner Kunze: Wie ein Hörspiel klingt das - plastisch, mitreißend, lautmalerisch betont, mit den notwendigen Pausen an den richtigen Stellen, unterstrichen von lebendigem Tonfall sowie beredter Gestik und Mimik.

Das gilt auch für die Kostprobe aus seinem nagelneuen Gedichte-Buch "Was macht die Biene auf dem Meer?" Hier hat er eine Auswahl getroffen, und wenn er liest, klingt es wie Musik - die Rhythmen von geschriebener und gesprochener Sprache umreißen eine Melodie. Reiner Kunze schöpft seine Ideen aus genauer Beobachtung seiner Umwelt. Das wird jedem an diesem Abend klar. Nicht zuletzt, als er aus dem Kapitel "Zugaben" drei Gedanken zitiert, die er Kindern abgelauscht hat. Einer von der fünfjährigen Josefin lautet: "Ganz am Anfang, als noch kein Mensch gestorben war, war da Gott allein im Himmel?"

Zu all den faszinierenden Gedichten kommen im Buch die wunderbaren Bilder von Horst Sauerbruch, mit dem der Schriftsteller schon 1993 bei dem Kinder-Gedichtband "Das Kätzchen" zusammengearbeitet hat. "Sauerbruch kann das", lobt Kunze: "Kinder zu beglücken, ohne ein falsches Bewusstsein zu schaffen."