Wer will so wohnen? Wer will das sehen, immerzu? 73-jährig, im Februar 1819, siedelte sich der große spanische Maler Francisco Goya nicht weit von Madrid in einem Landhaus an. Schlimme Erlebnisse hatten ihn zerrüttet, seit einer Krankheit hörte er nichts mehr. Quinta del Sordo, das Haus des Tauben, nannte er das Refugium seiner Einsamkeit. Im Jahr darauf begann er, die Wände mit 14 Bildern auszumalen - nicht aber, um dem Auge Freude zu bereiten.

Die Pinturas negras, Schwarzen Bilder, erzählen in Schattentönen von Makabrem und Grauenvollem. Hexen tanzen, ein Hund versinkt im Sand, Raufbolde prügeln mit Knüppeln aufeinander ein ... - Saturn, als nackter, magerer Greis mit den geweiteten Augen des Irrsinns, beißt einem Sohn Kopf und Arme vom Rumpf. Goya hatte die Schrecken des Krieges gesehen. Dunkel sah's in ihm aus: "Ich fürchte keine Kreatur außer dem Menschen."

Düsterkeit herrscht auch um den Mönch, den Caspar David Friedrich 1809 in einem suggestiven Gemälde am Rand des Meers postierte, wie von Gott verlassen: vor ihm und dem sandbraunen Felsen ein Streifen schwarzen Wassers mit einer Eisschicht aus blauweißem Wolkenhimmel darüber - wahrlich kein Andachtsbild. In Sujets wie diesen tut sich eine Gegenwelt auf, die Grausiges, Grausames oder gar Grässliches in die Wirklichkeit entlässt.

Dabei muss, was ängstigt und erschreckt, nicht abstoßen. Dieser Tage erliegen zahllose Kinobesucher - nachdem sie atemlos die Abenteuer des Zauberlehrlings Harry Potter verfolgt haben - dem Hype um die "Twilight"-Saga: "Breaking Dawn - Bis(s) zum Ende der Nacht" heißt das Finale nach Stephenie Meyers millionenfach verkauften Romanen. Hingegeben setzt sich das Publikum einem romantischen Stoff aus, der dramatische Hauptfiguren in einer gefühlsinnigen Romanze vereint. Und in ein schwarzes Reich tritt es ein: in die Nacht der Vampire. Ans zwar weniger spektakuläre, freilich wohl weit dauerhafter nachwirkende Erscheinen der von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten und redigierten "Kinder- und Hausmärchen" vor 200 Jahren gemahnt der Trubel: Harmlos sind die ganz und gar nicht.

Jene Gegenwelt des Wunderlichen und des Wunderbaren - um mit dem Dichter E. T. A. Hoffmann zu sprechen -, sie ist zurzeit im Frankfurter Städel-Museum begehbar. Die von den Medien gefeierte Schau widmet sich der "Schwarzen Romantik". Einschlägige Bilder und Grafiken, auch von Caspar David Friedrich, vereinen sich zu einem Reigen unseliger Geister, horrender Gegenden, erschreckender Geschehnisse. "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", schrieb Francisco Goya auf eine seiner Radierungen.

Romantik ist Anti-Aufklärung wider die Vernunft. Zwar schien sich Frankreich 1789 durch seine Revolution von allem altertümlichen Unverstand zu verabschieden; bald aber ließ, unterm Deckmantel einer "Vernunftreligion", der blutrünstigste Terror Tausende Köpfe rollen. Vom Rationalismus, vom Glauben an einen durch Menschen erwirkbaren Fortschritt der Humanität, später vom Materialismus der Technik und Industrialisierung zogen viele Kreative und Intellektuelle Europas sich zurück - aus der Vernunft in die Natur; auch zu den Schatten, die das Licht des Geistes dort warf.

In der Natur ahnten sie einen ursprünglichen und unendlichen, organischen Zusammenhang: Alle Teile darin stehen in Wechselverhältnissen miteinander, der Tag mit der Nacht, der Nebel mit der klaren Luft und also auch der reine Verstand mit der blühenden Fantasie, der Traum, die Angst, der Wahn mit der Wirklichkeit. Deren schwankender Boden, ihre ungekannten Winkel ähnelten architektonisch nun weniger klassisch-antiken Tempeln in ihrer stillen Größe als den Ruinen sagenumwobener Burgen und Abteien, die das Mittelalter übrig gelassen hatte. Dort leben und weben Märchenwesen und Dämonen, Spuk- und Schreckgestalten, Magier und Hexen, der Teufel und seine Brut in Menschen- und Geistergestalt. So wie die Sinne verliert das Gute jede Verlässlichkeit: Böses kann es kaschieren, und unter der Larve der Anmut lauert leicht das Verderben.

Den Blick auf die dunkle Rückfront romantischer Gefühlsseligkeit öffneten namentlich zwei Autoren. 1808 ließ Gotthilf Heinrich Schubert seine "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" erscheinen (und schickte ihnen 1814 noch eine "Symbolik des Traumes" nach). Dem Unbewussten kommt - schon hier, nicht erst bei Sigmund Freud - die Weite eines grenzenlosen Paralleluniversums zu, in dem der Sexus, die Sünde, das Kranke und Abartige wurzeln. Die Romantiker erachteten die Realität, wie arglose Sinne sie wahrnehmen und wie Naturwissenschaftler sie ausmessen, nur als reflektierende Oberfläche, dem Wasserspiegel ähnlich, unter dem eine unberechenbare Tiefe sich auftut.

Im 20. Jahrhundert ging der italienische Anglist Mario Praz jener Haltung nach: "Liebe, Tod und Teufel" heißt seine 1930 erschienene Monografie in der deutschen Übersetzung von 1963, die ihr den Untertitel "Schwarze Romantik" hinzufügte. Ihm verdankt das kulturgeschichtliche Phänomen hierzulande den Namen.

Zunächst manifestierte es sich literarisch - im Schauerroman, wie er am Ende des 18. Jahrhunderts in England aufkam und etwa im "Frankenstein" der 18-jährigen Mary Shelley sich vollendete. Dem aufklärerisch eingetrockneten Imaginationsvermögen der Autoren wie der Leser strömten frisch die mitreißenden Wasser der Fantastik und der Groteske, des Undurchschaubaren und Unheimlichen, des mal sublimen, mal plakativen Grauens zu.

Nach Amerika und zu Edgar Allan Poe gelangte die Schwarze Romantik über den Einfluss des deutschen Fantasten E. T. A. Hoffmann, vor allem seines Romans "Die Elixiere des Teufels". Dessen unheilvolle Hauptfigur, der satansbündlerische Klosterbruder Medardus, tritt einem in theatralischer Pose auf einem Bild des Friedrich-Zeitgenossen Carl Blechen auch im Frankfurter Städel entgegen, ebenso im Katalog. Der dokumentiert in zahllosen eindrucksvollen Farbabbildungen die Schau und taugt darüber hinaus als aktuelles Grundlagenwerk über die Schwarze Romantik überhaupt. Einig waren sich dabei Kurator Felix Krämer und die Autoren der hervorragenden Essays in dem Grundsatz, die Strömung nicht als Epoche einzugrenzen, sondern als überzeitliche Geisteshaltung vorzustellen.

Um 1800 breitet sie sich aus und noch einmal um 1900, im Symbolismus der Décadence und des Fin de Siècle. Und sie setzte sich fort in der Fotografie, im Film - und im Surrealismus seit den 1930er-Jahren. 1924 erklärte André Breton, der frühe Theoretiker und Wortführer der Richtung, Traum und Wirklichkeit zu nur "scheinbar gegensätzlichen Zuständen". Salvador Dalí ist in Frankfurt mit mehreren charakteristischen Arbeiten vertreten, Wucherungen einer entfesselten Einbildungskraft jenseits der "faktischen Welt".

Natürlich fehlt in Schau und Katalog der "Nachtmahr" nicht: Mit grämlicher Häme hockt der Quälgeist einer in Schleiern schlafenden Beauté bedrückend auf der Brust, während ein Pferd, den Kopf durch einen Vorhangspalt reckend, aus milchigen Blindaugen die Szene verfolgt. Von 1781 an malte der Schweizer Johann Heinrich Füssli jene Ikone des schwarzromantischen Albtraums in mehreren Versionen. 150 Jahre später kehrte die Bewusstlose in James Whales "Frankenstein"-Verfilmung wieder: Da liegt Mae Clarke als Forscherbraut Elizabeth wie entseelt über die Polster ihres Lagers gegossen. Kinematografisches Musterbeispiel für eine Ästhetik des Grauens: Der Schmerz, der Schauder, das Schöne fallen ins eins.

Francisco Goya (1746-1828) malte diesen "Flug der Hexen" 1797/98. Das kleinformatige Bild ist derzeit in der Frankfurter Schau zu sehen. © Museo Nacional del Prado, Madrid


Traum und Wirklichkeit sind nur scheinbar gegensätzliche Zustände.

André Breton, Theoretiker des Surrealismus


Ich fürchte keine Kreatur außer dem Menschen.

Francisco Goya


Im Frankfurter Städel

... ist die Ausstellung "Schwarze Romantik - von Goya bis Max Ernst" bis zum 20. Januar zu sehen und reist dann nach Paris weiter. Sie versammelt etwa 200 Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Fotografien und Filme aus ganz Europa in vielen Stilen aus einem Zeitraum von über 150 Jahren. Der Katalog - mit Hunderten Abbildungen auf 305 Seiten - erschien bei Hatje Cantz und kostet gebunden 45 Euro. Im selben Verlag liegt, gewissermaßen ergänzend, der Bildband "Surrealismus in Paris" vor (290 Seiten, gebunden, 49,80 Euro).