Bischofsgrün Der Traum von ein bisschen Freiheit

Andreas Gewinner

ALS-Patient Martin Hofweller kämpft um einen Rollstuhl, mit dem er seine Wohnung leichter verlassen kann. Die AOK ist der Ansicht: Die Liege taugt auch als Rollstuhl.

 
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Bischofsgrün - Ronja Hofweller nimmt einen Osterhasen aus Stoff und setzt ihn auf den Bauch ihres Vaters Martin. "Papa kann ihn ja nicht mehr streicheln, also mache ich es", sagt die Zehnjährige. In der engen, aber gemütlichen Dachgeschosswohnung im Bischofsgrüner Ortsteil Rangen hängen exotische Dolche und andere Souvenirs an den holzvertäfelten Wänden und der Decke. Ein paar von ihnen kann Martin Hofweller sehen - Erinnerungen an bessere Tage.

Tage, die nicht wiederkehren. Denn Martin Hofweller leidet seit 15 Jahren an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), einer unheilbaren Nervenkrankheit, die durch den bekannten Physiker Stephen Hawking traurige Berühmtheit erlangte. Rund um sein Bett, das sein Gefängnis ist, ist eine regelrechte Intensivstation aufgebaut. Denn Martin muss künstlich ernährt und beatmet werden, er kann nicht mehr reden, sich nicht mehr selbst bewegen, nicht einmal seinen Kopf. Aber er kann sehen und hören, sein Verstand funktioniert wie bei einem gesunden Menschen, besser sogar: "Er weiß noch alles, er kann sich alles merken", sagt seine Frau Antonia.

Dass Martin Hofweller mal das Haus verlässt, - außer alle sechs Wochen zur Dialyse - passiert vielleicht einmal im Jahr. Dann etwa, wenn mehrere Bergwachtleute ehrenamtlich aushelfen, Zeit und Gerät zur Verfügung stellen. So konnte er wenigstens zum Geburtstag seines Vaters. Und im Juli 2016 war ein besonderer Tag für den heute 46-Jährigen: "Rockavaria" in München, wo der Heavy Metal-Fan Iron Maiden und Slayer hören und sehen konnte. Der seltene Ausflug, bei dem seine ganzen lebenserhaltenden Geräte mit auf die Reise mussten, war möglich, weil einer der Pfleger, die sich neben Ehefrau Antonia rund um die Uhr um ihn kümmern, sowieso dorthin wollte. Vor allem aber, weil sich die Hofwellers einen elektrischen Rollstuhl ausleihen konnten. "Um das zu bewältigen, haben wir Tage vorher schon geübt", schildert Antonia Hofweller. Aber es ging. "Das war danach noch ein halbes Jahr lang Tagesgespräch", schildert sie, was der seltene Ausflug für ihren Mann und sie bedeutete.

Die Erstattung eines solchen Rollstuhls (Kosten rund 30 000 Euro) hatte die AOK abgelehnt. Nun hatten die Hofwellers einen neuen Anlauf genommen. Und einen mechanischen Multifunktionsrollstuhl mit elektrischer Verstellung beantragt, der Preis daür liegt zwischen 16 000 und 20 000 Euro. Doch auch diesen hat die AOK abgelehnt.

Ein solcher Rollstuhl ermöglicht es, dass Martin Hofweller in eine schräge, halb sitzende Stellung gebracht werden kann. Vor allem aber braucht er nur zwei weitere Helfer: Ehefrau Antonia und ein Pfleger oder eine Pflegerin, der sowieso immer vor Ort sein muss. Zudem würde der Rollstuhl in den umgebauten Opel der Hofwellers passen. In den Vivaro passt zwar auch eine ebene Transportliege, die die Hofwellers haben. Doch die ist schwer, umständlich zu manövrieren und braucht mehrere zusätzliche Helfer. Und auch auf der Liege würde Martin Hofweller wieder nur auf dem Rücken liegen, "eingeschnürt wie ein Rollbraten" (Antonia), weil sie kaum Seitenhalt hat.

Die Hofwellers haben sogar ein Gutachten des Nephrologischen Zentrums Marktredwitz-Selb, in dem der Rollstuhl befürwortet wird: "Eine so häufig wie möglich geänderte Körperfunktion" würde unter anderem die Lungenbelüftung befördern und helfen zu vermeiden, dass es "immer wieder zu Infektsituationen kommt, letztens sogar eine Lungenentzündung", wegen der Martin Hofweller samt Pfleger gar ins Krankenhaus musste. Die Logik der Nierenärzte: Der Rollstuhl würde helfen, für die Krankenkasse teure Zusatzerkrankungen zu vermeiden.

Die AOK konnte sich dem nicht anschließen. Sie verweist in Unterlagen darauf, dass bei Hilfsmitteln der "Grundsatz von medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit zu beachten" ist. Und für die "noch realistische Teilhabe" sei die vorhandene Liege ausreichend. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kommt wortgleich zum gleichen Urteil - ohne sich zuvor persönlich ein Bild von der Situation gemacht zu haben, wie es wenigstens die AOK tat, so Antonia Hofweller.

Derzeit läuft der Widerspruch der Familie gegen die Ablehnung. Auf Nachfrage bekräftigt Steffen Habit, Pressereferent der AOK Bayern in München, die Position der Kasse. Für einen Personen-Transport im Auto sei der elektrische Multifunktionsrollstuhl nicht zugelassen. Die AOK habe 2013 "die Kosten für einen elektrisch verstellbaren Mobilisationsrollstuhl (Transportliege) übernommen". Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern kommt in zwei Gutachten zu dem Schluss, dass "der bereits vorhandene Mobilisationsrollstuhl über die gleichen Charakteristika verfügt wie der jetzt gewünschte elektrische Multifunktionsrollstuhl. Der Mobilisationsrollstuhl ist elektrisch in verschiedene Liege- und Sitzpositionen verstellbar und kann für den sicheren Transport verwendet werden." Dem widerspricht Antonia Hofweller: An der Transportliege, die die AOK als "elektrisch verstellbaren Mobilisationsrollstuhl" bezeichnet, lasse sich nur Kopf und Fußteil höherstellen, eine sitzende Position sei nicht möglich.

Martin Hofweller kann zwar nicht mehr reden, aber mithilfe eines komplizierten Systems kommunizieren. Er kann seine Gedanken in eigene Worte fassen, was ihm der Rollstuhl bedeutet: "Ich kenne jedes Astloch mit Vornamen." Ihm fehlt "Sonne, Wind, Regen, Abwechslung, Vogelzwitschern. Jeder Gefangene hat Anrecht auf Freigang und Aufenthalt an der frischen Luft. Ich nicht, ich muss im Bett verfaulen. Ich nehme es persönlich, dass ich der Einzige bin, dem alles verwehrt ist. Ein Rollstuhl wäre das Ende der Trübsinnigkeit. Denn Trübsinn kann krank machen. Ich habe schon Depressionen." Dabei denkt Martin Hofweller besonders an seine Tochter Ronja: "Wie wäre es für Ronja, wenn ich mobiler wäre?" Antonia Hofweller ergänzt: "Die würde dich überall hin mitschleppen. Das wäre ein Traum. Sie sagt immer: "Der Vater kann nirgendwo mit hin.'"

Derweil blättert Ronja in einem Bilderbuch, in dem gute Drachen gegen böse Drachen kämpfen. "Das ist die AOK", sagt sie und deutet auf einen bösen Drachen. Irina, Martins Pflegerin, ist diplomatischer: "Es wäre schön, wenn es bis Juni klappt. Dann haben sie Silberhochzeit." Und sie bedauert, dass Martin - der früher selbst Krankenpfleger war - "auf seine Krankheit reduziert wird. Stephen Hawking ist Martins großes Vorbild."

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