Alles ist relativ: Jede Einschätzung hängt ab vom Blickpunkt und vom Vergleich. Das lehrt auch Lemuel Gulliver, der schiffbrüchige Normalmensch aus Jonathan Swifts Roman. Als es ihn ins Land Liliput verschlagen hat, marschiert das dort hausende Zwergenvolk scharenweise zwischen seinen Beinen hindurch; da muss er sich fühlen wie der Koloss von Rhodos. Zu dessen Füßen wiederum kamen sich die Menschen des Altertums zweifellos vor, als wären sie selbst zu Liliputanern geschrumpft. Nicht eben alt wurde das legendäre, wohl dreißig Meter hohe Monument; weniger als sechzig Jahre seiner imposanten Existenz waren ihm beschieden, bis es 226 vor Christus während eines Erdbebens umstürzte. Gleichwohl reihte es sich als jüngstes in die sieben Weltwunder der Antike ein. Weder wie der Koloss aussah, noch wo genau er sich erhob, hat die Wissenschaft ermittelt. Die Auffassung, Schiffe seien durch die gespreizten Schenkel des erzernen Sonnengotts hindurchgesegelt, verdankt sich einer aus dem 15. Jahrhundert überlieferten Mär. Seit Jahrzehnten tauchen Pläne auf, eine ähnliche Helios-Figur neu zu errichten; und ebenso kursieren heftige Einwände dagegen. Dem bislang jüngsten Projekt setzte im Jahr 2000 ein Machtwort des Kulturministers ein Ende. Nun aber schickt sich eine internationale Gruppe junger Architekten, Techniker und Historiker ernstlich an, für 240 Millionen Euro einen Koloss aufzubauen. Fünf Mal höher als das Original soll er ausfallen, als Gebäude begehbar sein, ein Museum zum Thema enthalten - und dabei die Hafeneinfahrt in schimmernd-maskuliner Nacktheit überspannen. Wer als winziges, von Wind und Wellen bedrohtes Menschlein sich per Schiff der Insel naht, wird weiterhin dankbar den Blick zum Himmel richten. Doch während er die Beine des Standbilds unterquert, senkt er den Blick besser aufs Meer: Einem Gott schaut man nicht unter den Lendenschurz.