Ofcolaco - Besmas Augen leuchten gierig. Sie tatscht mehrmals nach meinen Ohrsteckern. Die sind nichts besonderes. Einfacher, aber glitzernder Modeschmuck. Die Zwölfjährige bedeutet mir, dass sie sie gern haben möchte. "No", erkläre ich ihr. Ebenso wenig kriegt sie meine Kamera in die Hand. Schwester Sally Duigan hat uns ins Gewissen geredet, den Jungen und Mädchen nichts zu geben. 70 Kinder und Jugendliche leben hier unter dem Obdach der Direktorin im "Holy Family Care Centre", etwa eine Fahrstunde von Makalali entfernt, von der Farm, auf der ich derzeit im südafrikanischen Busch arbeite. Das Waisenhaus, das einige von uns Volontären zusammen mit Ranger Toko besuchen, ist eine liebevolle Herberge für die Babys, Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen, von denen gut 80 Prozent HIV-infiziert sind. Die meisten von ihnen haben den Glanz in ihren Augen verloren - oder gar nie gehabt -, manche starren paranoid oder stoisch vor sich hin. Andere springen unentwegt an den Besuchern hoch, klammern sich fest mit ihren kleinen Händchen, wollen einfach auf oder in den Arm genommen werden, ein wenig kuscheln, ein kleines bisschen Liebe erfahren. Etwas, was keines der Kinder je kennen gelernt hat.

Nomvula ist an dem kühlen Samstag eingehüllt in eine Decke, ihre nackten Füße hängen über die Mauer am Eingang zu Sally Duigans Büro. Nomvula spricht nicht, blickt nur mit traurigen Augen ins Nichts. Was muss das 13-jährige Mädchen Grauenvolles erlebt haben? Ich vermag es mir kaum vorzustellen. Fast alle Kinder in der "Holy Family" sind Vollwaisen, weil ihre Mütter oder Eltern an Aids gestorben sind. Die Mädchen sind fast alle obendrein missbraucht worden. Vom eigenen Vater, vom Bruder, vom Onkel, von irgendwem. Und mit Aids infiziert worden. Kein einziges Kind hat je Schönes erfahren im Leben, wie die Direktorin erzählt. Grausame Misshandlungen prägen die Vergangenheit der Jungen und Mädchen. Entsprechend aggressiv sind hier schon die Kleinsten. "Wir brauchen hier sehr, sehr viel Geduld", sagt Direktorin Sally Duigan.

Wie ein Hund an der Leine

Da gibt es Dumisani, den kleinen Jungen, an dessen Hals noch deutlich die Striemen des Seiles erkennbar sind, an dem er angebunden war wie ein Hund. Vor dem Haus seiner Tante, nachdem seine Mutter an Aids gestorben ist. Niemand in der Verwandtschaft will etwas zu tun haben mit dem HIV-infizierten Buben. Zu viele Münder gibt es zu stopfen. Einen zu viel. Den von Dumisani. Und im Haus will den Kleinen auch keiner haben. Es ist ohnehin viel zu eng für alle, die dicht gedrängt hier hausen.

Das "Holy Family Care Centre" ist jetzt sein Zuhause. Ein liebevolles. Es ist die letzte Anlaufstation für all jene Kinder, die niemand haben will. Ihr Leben ist geprägt von Gewalt, sie kennen nichts anderes. Und Hunger. Wenn immer etwas auf dem Tisch steht, so grabscht ein jeder sofort danach. In vielen geduldigen Gesprächen mit der Direktorin und den rund 40 Mitarbeitern müssen die Kinder lernen, dass das Essen auch nach zehn Minuten noch immer auf dem Tisch steht. Dass niemand anderes danach greifen wird. Dass sie nichts horten müssen für später.

Dass Essen eine ganz wichtige Sache ist, wissen wir von Toko, der uns ins Waisenhaus fährt. Der Ranger, der zu Zeiten der Apartheid ebenfalls Unschönes durchleben und häufiger im Gefängnis einsitzen muss, fährt mit uns zuerst in einen Supermarkt. In dem düsteren Laden packen wir nur Großpackungen auf den Rollwagen. 20 Kilo braunen Zucker, eine riesige Packung gefrorenen Fisch aus dem Fluss, 20 Kilo tiefgekühltes Huhn, zwei riesige Pakete mit bunten Lollies, einen Sack voll Kekse, einen mächtigen Sack Reis, drei Eimer grünes Mango-Chutney, das als Brotaufstrich für die Pausenbrote verwendet wird. All das transportieren wir ins Waisenhaus, zu dem wir über eine sandige Piste ein ganzes Stück abseits der Hauptstraße gelangen.

Im Nu umringt

Schon beim Eintreffen in dem riesigen, eingezäunten Areal umringen Jungen und Mädchen jeden Alters unseren Kleinbus. Kaum ist die Tür aufgeschoben, drängen die Kinder in den Bus, greifen nach unseren Händen, hängen sich an unsere Beine, wollen die Tüten, die sie im Vehikel stehen sehen, gleich an sich reißen. Toko ermahnt die Kleinen zu Geduld. "Die Geschenke gibt es später." Wir haben auch Bekleidung dabei, ein spanisches Paar sogar Spielsachen. Ich habe Buntstifte im Gepäck und einige Kleidungsstücke, die ich entbehren kann. Wenn mein Aufenthalt im Busch zu Ende geht, werde ich noch einiges mehr für die Waisen zurück lassen.

Im Waisenhaus ist alles blitzsauber. Alle Zimmer sind hell und geräumig. Auch wenn in einem der Räume 17 Mädchen gemeinsam übernachten - zusammen mit vier Babys, deren Bettchen in der Mitte des Raumes platziert sind. Die Kleinsten gehen in den Kindergarten, in den eine Krabbelgruppe integriert ist. Die Jungen und Mädchen blicken uns mit großen Kulleraugen an. Neugierig, skeptisch, ängstlich. Manche starren, manche ziehen sich mit Bärenkräften an den Gästen hoch. Der kleine Junge lässt gar nicht mehr nach, sich an meinen Schenkeln nach oben zu hieven. Miriam, die 19-jährige Studentin aus Deutschland, die ebenfalls als Volontärin in Makalali arbeitet, nimmt eines der kleinen Mädchen auf den Arm. Nach einer Stunde hängt die Kleine - inzwischen auf Miriams Rücken - noch immer an dem Gast. Liebe ist das Wichtigste für die Waisen. Das kleine Mädchen kostet jede Sekunde aus. Auch Miriam, die sich nur ungern von dem Kind trennt.

Die Ranger und Volontäre von Makalali besuchen die Waisen alle zwei, drei Wochen, um Zeit mit ihnen zu verbringen und mit ihnen zu spielen. Ein schlitzohriger Junge hängt sich voller Begeisterung an Sid. Der New Yorker schiebt den Kleinen auf der Schaukel an und kickt mit ihm Fußball. Das ruft auch die Älteren auf den Plan, die sofort ganz lässig ihre Künste am Ball unter Beweis stellen.

14 Jahre unter fürsorglicher Obhut

Die "Daughters of Our Lady of the Sacred Heart" engagieren sich in der Provinz Limpopo, in der das Waisenhaus steht, bereits seit den frühen 1950er-Jahren. Als sich auch in der Region - wie in so vielen Ländern Afrikas - Aids ausbreitet und die Menschen grausam dahinrafft, nehmen sich die Schwestern vor allem der HIV-Infizierten an. Zunächst kümmern sie sich auch um die kranken Mütter, aber irgendwann wird die Aufgabe zu groß. So widmen sich die Schwestern in erster Linie den Waisenkindern und jenen, die dringend ihres Schutzes bedürfen. "Vor allem die bereits an Aids erkrankten Kinder liegen uns am Herzen", betont Direktorin Sally Duigan.

Die "Holy Familiy" gibt es seit dem 8. Dezember 2001. "Da haben wir mit fünf an Aids erkrankten Kindern aus dem, Letaba Hospital' begonnen. Denn die Jungen und Mädchen brauchten dringend weiterführende Pflege und gute Ernährung, um genesen zu können", erinnert Duigan an die Anfänge. Sie selbst sei damals noch nicht hier gewesen. Über die Jahre hinweg, so die Direktorin, die seit zehn Jahren im Waisenhaus arbeitet, seien mehr und mehr Kinder nach Ofcolaco gekommen. "Einige von ihnen hatten das Glück, eine neue Familie zu finden. Aber das sind die wenigsten." Vielen seien die Kinder zu schwierig, vor allem die Größeren. Einige HIV-infizierte Waisen sterben auch. Die meisten, die in der "Holy Family" landen, haben schon verschiedene Stationen hinter sich. "Wenn alle anderen Einrichtungen nicht funktionieren, kommen sie zu uns", weiß die Direktorin. Die Kinder sind meistens unterernährt, krank und traumatisiert. Etliche von ihnen haben ein Leben auf der Straße hinter sich und ein gestörtes Verhältnis zu anderen Menschen. Kein Wunder, wenn man den Geschichten der überaus geduldigen Chefin des Waisenhauses lauscht. Da gibt es Mütter, die ihre Kinder einfach allein lassen wegen eines jüngeren Freundes. Manche Mütter sind erst 15 und völlig überfordert, wenn sie ein Baby bekommen. Oder sie bekommen das Kind nach einem Missbrauch und wollen es nicht haben.

Misshandelt im Klebstoff-Rausch

Der Hintergrund ist bei allen katastrophal. "Viele Jungen und Mädchen müssen stehlen, um schlichtweg zu überleben", berichtet die Direktorin. Oder sie haben Mütter, die pausenlos Klebstoff schnüffeln und ihre Kinder im Rausch übelst traktieren und misshandeln. "All diese Aggressionen übertragen sich auf die Jungen und Mädchen, die ebenfalls sofort zuschlagen oder alles haben möchten, was sie gerade sehen."
"Wir sind bemüht, ihnen eine ganzheitliche Pflege zu geben", sagt die Direktorin. Die umfasse Psyche, Emotion, Körper, Bildung und geistliche Unterstützung gleichermaßen. Für Letzteres gibt es sogar eine kleine Kapelle auf dem riesigen Grundstück des Waisenhauses. Regelmäßig werden die Aids-infizierten Kinder von einem Arzt untersucht, der hier seine Praxis betreibt. Die Waisen sollen sich hier unter der Obhut der Schwestern sicher fühlen, nichts mehr fürchten müssen und endlich ein bisschen Kindheit verbringen können nach ihrer schrecklichen Vergangenheit. Sie sollen spielen können wie andere Kinder auch. Das können sie hier, mit einfachen Dingen zwar, aber es ist nicht mehr einzig ihr Lebensinhalt, nach Essen zu suchen oder sich vor Erwachsenen zu verstecken, von denen Unheil droht. Ein Junge rollt gerade einen ausgedienten Autoreifen neben sich her, zwei andere schaukeln lachend in zerschnittenen Autoreifen, die an dicken Ketten befestigt sind. Drei Jungen rennen über den großen Hof, ihre selbst gebastelten Drachen im Schlepptau. Und etliche umringen uns einfach staunend.

Sally Duigan erzählt, dass viele Mütter in den Krankenhäusern sterben und ihre Babys hinterlassen. "Die Verwandten wollen sie nicht." Aus diesem Grund kämen einige Mütter ins Waisenhaus, ehe sie sterben, damit sie ihre Kinder in Sicherheit wiegen können. "Somit haben sie schon von Anfang an Kontakt zu anderen Babys und Kleinkindern", sagt die Direktorin.

Ohne Vorurteile und mit viel Geduld

13 Waisen sind zwischen zwei und vier Jahre alt, und 53 gehen zur Schule, zehn von ihnen sogar in die Highschool. "Wir nehmen die Jungen und Mädchen von der Geburt bis zu 18 Jahren. Wir haben erst jetzt ein Haus gebaut für vier Jungen, damit sie als Erwachsene leben können. Wir geben ihnen Geld für die Versorgung, und sie haben ein Telefon, damit sie mit uns kommunizieren können." Sally Duigan wertet diesen Schritt als Erfolg, was nicht von ungefähr kommt. Denn Bildung ist in der "Holy Family" ein ganz wichtiges Thema, denn nur so haben die Kinder die Möglichkeit, eine Chance im Leben zu bekommen. "Alle besuchen die örtliche Schule im Dorf", erzählt die Direktorin, die immer wieder unterbrochen wird, weil eines der Kinder ins Büro stürmt. Wer zu vorlaut vorprescht, wird zurückgeschickt und muss erneut eintreten mit dem Zauberwörtchen "Bitte". Und immer lächelt Sally Duigan geduldig, geht auf jedes Wort der Kinder ein.

Dann läutet Franziska die Glocke. Die Australierin ist erst seit drei Tagen als Volontärin im Waisenhaus. Wenn die Glocke läutet, ist Tee-Zeit. Und dazu gibt es "Simba". Es sind Kekse, "die lieben die Kinder", weiß die junge Frau bereits. Sie ist eine von 40 Mitarbeitern, die sich im Schichtdienst um die 70 Waisen und Halbwaisen kümmern. In den großen Schlafsälen müssen auf jeden Fall zwei Aufsichtspersonen übernachten, um den Übermut der Kinder in Grenzen zu halten.

Oberster Grundsatz in der "Holy Family" ist der, alle Vorurteile über Bord zu werfen. Ob Junge oder Mädchen, egal mit welcher Vergangenheit oder Krankheit - die Schwestern nehmen sich ihrer an, wollen ihnen eine schönere Zukunft schenken, ein kleines bisschen heile Welt und ein Leben, das wieder lebenswert ist. "Das ist unsere Mission", sagt Sally Duigan. Und man nimmt es ihr sofort ab.