Dreiländereck Klassik & Co. einmal anders

Jörg Schurig,
Immer wieder ein Erlebnis: die Aufführung der „Landmaschinensinfonie“ – jedes Mal in einer anderen Form. Von der Decke in der riesigen Festspielscheune hängt hier übrigens die legendäre Gülle-Orgel. Foto: /dpa

Stelzen, ein Dorf nicht weit von Mödlareuth, wird jedes Jahr zum Pilgerort von Musikfans aus halb Deutschland.

 
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Man muss es gesehen haben, um es glauben zu können: Stelzen, knapp zehn Autominuten nördlich von Mödlareuth, wird an diesem Wochenende wieder komplett zugeparkt sein. Der Grund: Eine Menge Musiker des weltberühmten Gewandhausorchesters campen hier – und geben ganz nebenbei in unterschiedlichen Formationen und mit diversen Gästen ein paar Konzerte. Legendär die Anfänge, wo Leute im Frack und im Blaumann am Rost anstanden und sich gegenseitig beschnupperten ... Exakt 30 Jahre später ist das Festival längst Kult geworden – und startet an diesem Freitag wieder durch.

Klingende Landmaschinen und ein Traktor als Taktgeber: Wie jedes Jahr steht am Freitag zu Beginn eine neue Ausgabe der „Landmaschinensinfonie“ auf dem Programm. Die Musiker um Festivalchef Henry Schneider und dem Leipziger Klangforscher Erwin Stache haben dem Werk die Bezeichnung „ST 22“ verliehen und wollen wie immer allerlei landwirtschaftliches Gerät auf seine klangliche Eignung hin testen. Mit unglaublich faszinierenden Ergebnissen übrigens.

Ein weiterer Höhepunkt dürfte das Abschlusskonzert am Sonntagabend werden. Das „Stelzenfestspielorchester“ – das sich aus Musikerinnen und Musikern des Leipziger Gewandhauses rekrutiert – hat sich mit Mitstreitern aus der Ukraine verstärkt. Zu hören sein werden Beethovens „Egmont“-Ouvertüre und dessen 8. Sinfonie. Im zweiten Teil sind das moderne Stück „Da pacem, domine“ von David Timm sowie Auszüge aus Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“ zu hören. Dann greift auch der Leipziger Universitätschor in das Geschehen ein.

Am Samstag stellt Nils Wogram, einer der besten Jazz-Posaunisten Deutschlands, in der Stelzener Kirche sein neues Werk „Muse“ vor – mal so nebenbei: das Album des Jahres 2022 beim Deutschen Jazzpreis. Das Ensemble L’Art de Passage beweist am Samstagabend, warum es eins der besten Weltmusikensembles Deutschlands ist, die Rockband Die Kosmonauten will anschließend für „Tanzen bis zur Schwerelosigkeit“ sorgen. Weitere Konzerte, Ausstellungen und Performances komplettieren das Spektakel genauso wie das Dorffest am Sonntagnachmittag mit dem legendären Kuchen der Frauen von Stelzen und dem ebenso legendären Druckluftorchester.

Der frühere Leipziger Gewandhaus-Bratschist Schneider hatte das Festival 1993 als Dank an seine vogtländische Heimat gegründet. Als Musiker war er in alle Welt gereist, nun sollte die Welt zu Gast in seinem Dorf sein. Mit ungewöhnlichen Konzerten erregte das Fest schon bald überregional Aufsehen. Selbst Medien aus dem Ausland berichteten über das musikalische Treiben in der Provinz. Musiziert wird hier in einer großen Scheune, der Dorfkirche oder direkt in Wald und Flur.

Der Name des Festivals bezieht sich auf die geografische Lage des Schauplatzes. Das 180-Seelen-Dorf Stelzen liegt in Thüringen, das zwei Kilometer entfernte Reuth auf sächsischem Gebiet. Aber auch Fans aus dem nicht weit entfernten Bayreuth fühlen sich hier heimisch. Denn Stelzen hat mit dem Stelzenberg einen Grünen Hügel samt Festspielscheune sowie ein eigenes Festspielorchester.

Wenn in Stelzen am Sonntag die letzten Takte verklungen sind, geht es auf der „Bachwiese“ mitten im Ort noch eine ganze Woche lang weiter – mit Musik aus der Konserve. Dann können Fans beim Picknick eine Woche rund um die Uhr Bachs Gesamtwerk in CD-Qualität genießen. Die Lautsprecher hängen in einem Baum versteckt.

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