Der 7. Oktober 1949 brachte eine weitere Aufregung in das Leben der thüringischen Familie. Der 2. Deutsche Volksrat erklärte sich zur Provisorischen Volkskammer und setzte die Verfassung der DDR in Kraft, womit die Deutsche Demokratische Republik gegründet war, die unverzüglich mit der Abriegelung ihres Hoheitsgebietes begann.
Eine abenteuerliche Rettungsaktion: Es war der 9. November 1949, als Edeltraud Gerlinger bei Nacht und Nebel mit ihrer Mutter und ihrer Schwester ihren Heimatort Arnsbach verließ. Sie "befreiten" Walter Schütze, um in einer mühsamen Route erst einmal über Ost- nach Westberlin zu gelangen. Wegen der zu erwartenden Kontrollen auf dem Territorium der soeben gegründeten Deutschen Demokratischen Republik musste die Familie darauf verzichten, außer den Kleidern, die sie am Leib trug, irgendwelche weitere Kleidung, Hausrat oder Einrichtungsgegenstände mitzunehmen. Den Kindern wurde eingeschärft, nichts zu sagen, wenn Beamte der Volkspolizei sie fragen würden. Die damals achtjährige Edeltraud spürt heute noch die große Last, die ihr damit aufgebürdet wurde, denn wäre die Flucht aufgeflogen, hätte das für die Familie wegen Republikflucht Internierung oder Schlimmeres bedeutet.
Flucht über Berlin in die Blaich: Von Westberlin führte ihre Flucht dann per Luftbrücke nach Frankfurt am Main und von dort per Bahn nach Kulmbach in die Blaich. Der damalige Kulmbacher Polizeichef Ernst Pongratz und seine Familie gewährten den Flüchtlingen in ihrer Wohnung Unterkunft und die beiden Mädchen gingen fortan in die Blaicher Schule. Edeltraud Gerlinger erinnert sich noch dankbar an diese Zeit: "Die großzügige Unterstützung der Familie Pongratz hat meinen Eltern und uns Kindern wieder auf die Beine geholfen und die Schulspeisung hat uns das Überleben gesichert. Der Hausmeister mochte uns. Er wusste, dass wir absolut mittellos waren und gab uns immer noch ein bisschen was für zu Hause mit." Sehr gut konnte sie sich noch an "die gute Blutwurst von Sauermann" erinnern und an die leckeren Schweinshaxen, was den Museumsleiter außerordentlich erfreute.
Stationen in Döllnitz und Mannsflur: Der Vater von Edeltraud Gerlinger, Walter Schütze, hatte in Arnsbach sein Säge- und Hobelwerk mit Holzgroßhandlung wegen der Enteignung zurücklassen müssen. In Kulmbach war er arbeitslos. Durch Zufall bekam er Kontakt zu Geheimrat Fritz Hornschuh, der in Mainleus auch ein Sägewerk besaß. Ihn konnte er in holztechnischen Fragen gut beraten. Das Honorar dafür nutzte er als Startkapital, um in Döllnitz die Schneidmühle zu pachten und einen Holzhandel zu beginnen. 1955 gründete er dann in Krumme Fohre eine Fabrik, in der er Holzgestelle für Polstermöbel herstellte.
Anfänglich wohnte die vierköpfige Familie Schütze in der Döllnitzer Mühle in eineinhalb Zimmern, gelangte aber bereits 1953 in der Siedlung Mannsflur zu einem eigenen Häuschen, dessen Haushalt Edeltraud Gerlinger nun auflöste und einige Stücke davon den Museen im Mönchshof übergab.
Hausrat über die Grenze geschmuggelt: Bleibt nur noch die Frage, wie kamen diese Sachen aus Thüringen nach Oberfranken? Edeltraud Gerlinger erzählt: "Während des ersten Sommers in Kulmbach waren die Grenzen noch nicht überall durch Zäune gesichert, sondern es gab Patrouillen. Unsere zurückgebliebene Verwandtschaft in Thüringen hatte ausgekundschaftet, dass es ein Zeitfenster von etwa einer Stunde gab, in der die thüringisch/bayerische Grenze an einer bestimmten Stelle bei Falkenstein (Probstzella/Lauenstein) unbewacht war. Dorthin sind wir dann Sonntag für Sonntag mit ein bisschen Brotzeit ,zum Heidelbeerenpflücken‘ gefahren, das war jedes Mal ein kleines Familientreffen mit den Verwandten aus dem Osten. Dabei hat meine Großmutter immer etwas aus unserer ehemaligen Wohnung mitgeschleppt, so viel sie tragen konnte. Eine Wiedervereinigung auf Raten mit unserem Hausrat. Einmal war es eine Schreibmaschine, einmal eine Standuhr und ab und zu Küchengeräte, wie zum Beispiel die ganz wichtige Kartoffelpresse. Nun konnte es sonntags wieder Thüringer Klöße geben, ganz wie in der ehemaligen Heimat."