Christmas Island - Kühl weht mir das Gebläse der Klimaanlage in der Tourist-Information in den Nacken, während draußen schon morgens die Sonne brütend heiß vom blau-weißen Himmel sticht. Im Hintergrund spielt Musik. "Silent Night, Holy Night". Ich fühle mich wie im falschen Film. Denn Weihnachten liegt nahezu ein halbes Jahr zurück. Und die Temperaturen stimmen mich hier mitten im Indischen Ozean, wo wir 2616 Kilometer nordwestlich von Perth und 350 Kilometer südlich von Java vor Anker liegen, alles andere als weihnachtlich. Christmas Island - die Weihnachtsinsel -, zum Großteil mit tropischem Regenwald bedeckt, gibt sich heute zumindest musikalisch keine Blöße. Es ist auch das einzige, was einen hier an Weihnachten erinnert. Benannt wurde Christmas Island von Kapitän William Mynors, der sie mit dem der britischen Ostindien-Kompanie gehörenden Schiff Royal Mary am 25. Dezember 1643 erreicht hatte. Und eben wegen dieses Datums erhielt die Insel ihren Namen. Ansonsten ist Christmas Island für eine animalische Besonderheit weltberühmt: die Invasion der roten Krabben.


Über Autos und Häuser

Die rotgefärbten Weihnachtsinsel-Krabben, die mich und die Crew der "Wild One", die für einige Tage hier vor Anker liegt, auf Schritt und Tritt begleiten, kommen nur hier und auf den Kokosinseln - den Cocos Keeling Islands - vor. Jedes Jahr im November, je nach Mondphase, strömen Millionen von Krabben (ihr Vorkommen wird auf 20 Millionen geschätzt) aus dem Wald zur Küste, um dort ihre Eier ins Meer abzugeben. Dann sind auf der 135 Quadratkilometer großen Insel nahezu sämtliche Straßen gesperrt, ist das öffentliche Leben in gewissen Bereichen für eine ganze Weile lahm gelegt. Große rote Schilder weisen täglich aus, welche Straßen aktuell gesperrt sind, um ja keine der Krabben zu überfahren. Denn die rote Krabben-Flut bahnt sich ihren Weg so, wie es geradewegs Richtung Meer passt: immer geradeaus. Untertunnelungen, die die Tiere in Bahnen lenken, gibt es zwar, auch Brücken, über die sich die Krabben ihren Weg nach oben und wieder nach unten suchen, ebenfalls. Doch angesichts der Millionen-Wanderung machen die Tiere weder vor Autos noch vor Häusern Halt. Ohne jegliches Pardon schreiten die Krabben auf dem Weg zu ihrer Vermehrung voran. Leo indes platziere ich nur vorsichtig in der Nähe der großen Krabbenscheren, um ein Foto zu machen. Man weiß ja nie!

Was einem Autofahrer, der unachtsam auf der Insel unterwegs ist, teuer zu stehen kommen kann, ist das Überfahren eines dieser roten Krabbler. 5500 Dollar Strafe muss man abdrücken - wenn man sich erwischen lässt. So lässt sich auch das ständige Zickzack-Fahren der Insulaner erklären.

Was mich fast noch mehr fasziniert als die roten Krabben, die schon als ordentliche Kaliber daherkommen, sind die Robber Crabs. Auf Christmas Island gibt es die größte Population der Palmendiebe (Birgus latro) weltweit. Manche Exemplare mit diesen mächtigen Scheren können gar bis zu einem Meter groß werden. Sie schillern in prächtigem Blau und Orange, manchmal zu Lila changierend. Und man möchte absolut nicht seine Finger zwischen die Werkzeuge dieser riesigen Krabbeltiere bekommen.


Viele Tiere noch nicht erfasst und erforscht

Es gibt hier noch weitaus mehr Sorten von Krabben, die bislang auf ihre nähere Erforschung und Beschreibung warten. Erfasst sind neben den großen Krabben-Gruppen bislang 14 Schnecken-Arten, 70 Arten von Nachtfaltern sowie diverse Tagfalter, 90 Käfer-Arten und verschiedene Spinnentiere. 53 Arten wurden - absichtlich oder unabsichtlich - eingeführt, darunter Honigbienen, Taufliegen, Schaben, die Große Achatschnecke sowie die aus Afrika eingeschleppte Gelbe Spinner-Ameise, die die größte Gefährdung für die Tierwelt auf der Insel darstellt.

Insgesamt findet man auf der Insel 23 Vogelarten, darunter neun verschiedene Meeresvögel. Vögel, die nur auf dieser Insel brüten, sind unter anderem der Weißbauch-Fregattvogel, der Graufußtölpel, der Weihnachtsinsel-Buschkauz, die Dunkle Fruchttaube, der Weihnachtsinsel-Bänderhabicht und die Weihnachtsinsel-Südseedrossel. Auch der Weißschwanz-Tropikvogel, der als Wappentier die Flagge des Territoriums ziert, ist auf dieser Insel endemisch.

Ursprünglich gab es auf der Weihnachtsinsel fünf Säugetierarten. Die beiden ehemals heimischen Ratten, die Weihnachtsinsel-Ratte und die Maclear-Ratte, starben bereits kurz nach Aufnahme des Phosphat-Abbaus aus. Die Weihnachtsinsel-Spitzmaus ist seit 2000 nicht mehr nachgewiesen. Die Bestände der beiden Fledermausarten Weihnachtsinsel-Zwergfledermaus und Weihnachtsinsel-Flughund - enorme Tiere, die auch tagsüber über unseren Köpfen kreisen - sind stark rückläufig. Was noch an Hund und Katze auf der Insel lebt, kriegt notgedrungen sein Gnadenbrot. Neue Tiere hier einzuführen oder auch deren Vermehrung sind strikt verboten. Damit Katzen hier nicht ihr Unwesen treiben, sind überall auf der Insel giftige Köder an kleinen Pfählen festgemacht. Außerdem finden sich im Dschungel Käfige, in denen die ungeliebten Ratten ihr Ende finden.

Von den ursprünglich vorkommenden sechs Reptilien-Arten sind fünf endemisch: zwei Skinke, zwei Geckos und eine Blindschlangen-Art. Fünf weitere Arten wurden eingeführt, darunter der Asiatische Hausgecko. 1980 wurde der Weihnachtsinsel-Nationalpark eingerichtet, so dass die Insel mittlerweile zu zwei Dritteln unter Naturschutz steht.


Phosphot-Abbau seit mehr als hundert Jahren

Die Weihnachtsinsel besteht aus einem vulkanischen Kern (Trachyt und Basalt) sowie Kalkstein und Steinkorallen. Sie erhebt sich aus einer Meerestiefe von 2000 Metern und ragt etwa 350 Meter über die Meereshöhe hinaus. Der höchste Punkt ist der Murray Hill im Westen der Insel mit 361 Metern. Die Küste ist schroff und schwer erreichbar.

Nachdem auf der Insel Phosphat-Vorkommen entdeckt wurden, wurde sie 1888 von der britischen Krone annektiert. Kurz darauf wurde mit der Besiedlung begonnen, überwiegend mit Arbeitskräften aus Singapur, China und Malaysia. Ab 1890 wurde dann Phosphat abgebaut und es wurden Minen eingerichtet. Unser Ankerplatz ist nicht unbedingt attraktiv, zumal hier die große Verladestation der Phosphat-Vorkommen ist und mächtige Kähne vor unseren Augen befüllt werden. Im Zweiten Weltkrieg war die Insel vom 31. März 1942 an von Japan besetzt. Erst im Oktober 1945 wurde die Insel wieder vom Vereinigten Königreich in Besitz genommen. Am 1. Oktober 1958 wurde die Insel der Hoheit Australiens überstellt.


Chinesen stellen die Mehrheit

Auf der Insel leben nach einem Stand von vor vier Jahren etwa 2100 Menschen. Mehrheitlich besteht die Bevölkerung aus Chinesen, deren Anteil bei 70 Prozent liegt, Europäern (20 Prozent) und Malaien (zehn Prozent). Angesichts der chinesischen Bevölkerungsmehrheit ist der Buddhismus die größte Religionsgemeinschaft auf der Weihnachtsinsel, gleich gefolgt vom Islam - nicht zu überhören beim täglichen Gebet gen Mekka -, dem Christentum und dem Daoismus. Neben Englisch wird auf Christmas Island Chinesisch und Malaiisch gesprochen.


Hunderte sterben in den Fluten

Auf der abgelegenen Insel gab es noch bis vor Kurzem ein Aufnahmezentrum für Asylbewerber, das mittlerweile geschlossen ist. Die Behörden sind äußerst wachsam darauf bedacht, dass niemand Unbefugtes australisches Hoheitsgebiet betritt. Tag und Nacht sind die Customs - der Zoll - rund um das Eiland auf Wachposten, um das Eindringen von Flüchtlingen zu verhindern. Einige Bronze-Tafeln auf der Anhöhe über die Bucht erinnern an Dramen in den Jahren 2001 und 2010, wo jeweils mehr als 300 Menschen in den tobenden Fluten ertrunken sind. Kurz nach ihrer chaotischen Reise von Indonesien übers Meer haben sie es wohl bis in den Hafen Christmas Islands geschafft, doch ein enormer Sturm verhindert, dass die Menschen auf der Suche nach einem neuen Leben in Freiheit ihr Ziel nicht mehr erreichen. Viele Helfer auf der Insel müssen hilflos zusehen, wie vorwiegend Kinder und Frauen in den Fluten zu Tode kommen.


Teures Internet nur am Hotspot

Schon einige Stunden nach unserer Ankunft in Christmas Island marschieren wir geschlossen zur Tourist-Info. Denn nur dort gibt es einen Hotspot, über den wir nach längerer Abstinenz endlich online sind. Für sieben Dollar pro Stunde. Mark, Flo und Thomas werden die "Wild One" in vier Tagen verlassen. Ehe wir in der Flying Fish Cove in Christmas Island vor Anker gehen, treffe ich eine weitreichende Entscheidung und werfe wieder einmal sämtliche Pläne über den Haufen. Ich wäre nämlich von nun an die einzige Crew um Kapitän Martin. Und nachdem die nächsten 25 Tage nur über die offene See nach Rodriguez und Mauritius führen und noch nicht klar ist, ob Martin tatsächlich die Cocos Keeling Islands ansteuert, werfe ich mein ursprüngliches Vorhaben über Bord, mit ihm in 80 Tagen nach Madagaskar zu segeln. Alle zwei Stunden Schicht sind mir dann doch des Guten zu viel. So war es ja eigentlich auch nicht geplant. Verständlich, dass Martin etwas enttäuscht ist, als ich ihn über meine Pläne in Kenntnis setze - und ebenfalls einen Flug auf die 500 Kilometer entfernt liegenden Cocos Keeling Islands buche. Eine heiße Empfehlung meines Kumpels Mark, der bereits zweimal hier mitten im Nirgendwo war, als er damals durch Australien getourt ist. Meine drei Mitsegler machen auf Cocos nur eine halbe Stunde Halt, um dann weiter zurück aufs Festland nach Perth zu fliegen.


Unglaubliche Unterwasserwelt

Doch zunächst einmal zurück nach Christmas Island, wo wir nach Erledigung all unserer Kommunikationen und Flugbuchungen zurück auf die "Wild One" kehren. Und Abtauchen in die unglaubliche Unterwasserwelt in der Flying Fish Cove. Welch ein Luxus, einfach vom Boot aus ins Wasser zu springen und dann in einem natürlichen Riesen-Aquarium zu schnorcheln, das sich durchaus als eines der schönsten Riffe bezeichnen lassen darf, das ich je erlebt habe. Die Korallen - unter anderem riesige Tisch-, Geweih- und Hirn-Korallen - sind enorm und noch völlig intakt. Sogar Kapitän Martin, der schon in den schönsten Riffen weltweit geschnorchelt und getaucht ist, ist absolut fasziniert. Blau leuchtend, lila schillernd, Gelb, Orange, Pink - die Vielfalt der Fische ist ebenso traumhaft wie das warme, türkis schimmernde Wasser. Etwas Vergleichbares habe ich lediglich auf den Malediven erlebt - natürlich mit meinem geliebten Chap -, für den es stets das Höchste war, in die Unterwasserwelt abzutauchen.


Erkundungs-Tour durch den Dschungel

Als wir nachmittags auf der "Wild One" die Sonne und den Ausblick auf Christmas Island genießen - lässt man einmal die Phosphat-Fabrik links liegen -, kommen zwei junge Leute zum Boot geschnorchelt. Wie sich später herausstellen wird, sind es zwei berühmte australische Fotografen: Chris Bray und seine Frau Jess. Selbst Segler, suchen sie stets den Kontakt zu ihresgleichen und laden uns für den Nachmittag des nächsten Tages ein, mit ihnen die Insel zu erkunden. Da lassen wir uns nicht zweimal bitten.

Doch ehe wir mit dem Pärchen auf Tour gehen, macht sich unsere Crew spätnachmittags, als es nicht mehr so brutal heiß ist, auf Achse, um die größte Anhöhe im Dschungel - den Murray Hill - zu erkunden. Es wird immer enger, immer steiler. Schroffes Vulkangestein knirscht unter unseren Füßen, während es überall im Gebüsch raschelt. Wir müssen gut aufpassen, zumal die Invasion der Krabben zwar längst nicht begonnen hat, jedoch Abertausende von ihnen hier in den Löchern des Dschungels hausen. Ein Wunder, dass wir nicht einbrechen, zumal ein Loch ans andere grenzt. Immer wieder einmal ertönt ein kleiner Aufschrei, wenn einer mit dem Gesicht mitten im Netz einer Riesenspinne landet. Es fühlt sich auch nicht unbedingt angenehm an. Meist trifft es allerdings die Jungs, zumal sie eilig voranschreiten und ob ihrer Größe die Netze zuerst treffen. Dass Australien mit giftigen Tieren übersät ist, weiß ein jeder von uns. Mittlerweile dämmert es, und uns läuft wieder einmal die Brühe in Strömen vom Leib. Im Finstern stolpern wir zurück - zum Teil auf allen Vieren durchs Dickicht bergab arbeitend. Ein tolles Abenteuer am Ende unseres ersten Tags auf Christmas Island.