Mit welcher Musik haben Sie mit 17 Ihre Eltern genervt?
Meine Eltern empfanden die Bass-Drum und die Snare im Hip-Hop als anstrengend. Aber sie haben sich die Genervtheit nicht sehr anmerken lassen. Die Musik meiner Jugend war Reggae, Funk, Soul und Hip-Hop. Ich hatte aber nie die Phase, alles anders machen zu müssen als meine Eltern. Mein Vater war in meiner Jugend weniger präsent. Das hat bestimmt auch zu unserem guten Verhältnis beigetragen.
Ihr Vater war Architekt. Wo arbeitete er?
Zuerst arbeitete er drei Jahre in Athen und anschließend einige Jahre in Berlin. Es waren die Jahre, in denen ich es schwer hatte in der Schule oder abends mal nicht nach Hause kam. Meine Mutter hat das mit mir sehr geduldig ausgetragen. Ich konnte nicht so richtig rebellieren, weil sie dafür nicht viel Platz ließ. Dass mein Vater nicht bei uns lebte, habe ich nicht als Manko empfunden, weil wir in den Ferien immer bei ihm in Athen und später viel in Berlin waren.
Der Song „17. September“ ist an Ihren Vater gerichtet. Ihr ältester Onkel wurde in Athen geboren, Ihr Großvater war dort in den Zwanzigerjahren Hauslehrer. Ist dieser Ort für Sie zu einer zweiten Heimat geworden?
Athen ist eher ein Sehnsuchtsort, mit dem ich viel verbinde. Ich könnte mir für mich noch etwas anderes vorstellen als Berlin. Griechenland ist ein unglaublich schönes, geselliges und spannendes Land. Es muss sich gerade neu erfinden, was für die Kunst ein interessantes Moment ist. In den Rembetiko-Kneipen wird viel gesungen – und zwar von 16 bis 60. Ich habe mich bei dieser Platte aber sehr frei gemacht und versucht, Musik zu kreieren, die Platz lässt für meine Geschichten.
Hat Ihr Vater Ihnen bei der Platte auf die eine oder andere Weise geholfen?
Er hat mir sehr geholfen, indem er mir seinen Fundus an Dia-Fotos zur Verfügung stellte. Er ist ein toller Fotograf. Seine Bilder aus den 1970er und 1980er Jahren sind ins Artwork mit eingeflossen. Ich habe sogar einen Song für ihn geschrieben, mich aber lange geziert, ihn ihm zu zeigen. Er mochte ihn dann aber sehr.
Auch Ihr Großvater Richard Herre war Architekt, Designer, Grafiker und Le-Corbusier-Übersetzer. Warum haben Sie die Familientradition nicht fortgesetzt?
Erwartungen gab es in dem Sinne nicht. Mein Vater mochte seinen Beruf sehr, insofern hätte er sich das wahrscheinlich gut vorstellen können. Aber mein jüngerer Bruder ist Architekt geworden. Ich glaube, mein Vater hat schon gespürt, dass ich nach etwas anderem gesucht habe. Ihm gefällt an meinem Beruf das Interdisziplinäre. Das verbindet mich auch mit meinem Großvater.
Besitzen Sie Designobjekte, die Ihr Großvater hergestellt hat?
Meine Eltern leben in einer Wohnung, deren Möbel mein Großvater in den 1920er Jahren entworfen hat. Ich habe vor einigen Jahren dem Magazin Monopol ein Interview gegeben und darin über meinen Großvater erzählt. Daraufhin meldete sich bei mir ein Herr, der Möbel meines Großvaters hatte. Die konnte ich ihm abkaufen.
Wie denken Ihre jüdischen Verwandten in Israel über Deutschland?
Sie fühlen sich sehr verbunden mit Deutschland. Mein Cousin ist in Frankfurt geboren und hat sich immer als Israeli und als Deutscher gefühlt. Bestimmte Entwicklungen in Deutschland wie das Aufkommen der neuen Rechten machen natürlich allen Sorgen. Mit dem Blick von außen ist das wahrscheinlich noch weniger zu verstehen.
In dem Song „Dunkles Kapitel“ ziehen Sie einen Bogen von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Wiederholt sich deutsche Geschichte gerade?
Es ist eine Wiederholung, die auf unglaublicher Ignoranz und Geschichtsvergessenheit basiert. Abstruser Weise ist es bekannt, wozu solch eine Art von Nationalismus führt. Die Leute wissen, was nach der Weimarer Republik kam. Das macht es umso furchtbarer. Niemand kann heute mehr sagen, man hätte es nicht gewusst. Der Rechtsruck ist keine rein ostdeutsche Thematik, er passiert überall. Mit verwundert zum Beispiel, wie stark die AfD auch im Bodenseeraum ist. Das Ganze hat alarmierende Dimensionen angenommen, weil es nicht mehr nur Stammtischgerede ist. Es setzt sich in unseren Institutionen, der Polizei, auf Richterstühlen, in Schulen und Kindergärten fest. Das darf man nicht unterschätzen. Deswegen ist es wichtig, sich zu positionieren und die Plattform, die man als Künstler hat, zu nutzen.
Wie hat Ihre jüdische Großmutter es geschafft, das Dritte Reich und den Holocaust zu überleben?
Meine Großmutter und die älteren Geschwister meiner Mutter galten nach den Rassengesetzen der Nazis als jüdisch. Damit waren sie spätestens ab 1940 extrem gefährdet. Meine Großmutter hat meinen Großvater geheiratet und seinen Namen angenommen. Als die Bomben auf Berlin fielen, sind sie nach Süddeutschland in das Dorf meiner Urgroßmutter gegangen. Dort konnten sie unerkannt den Krieg überstehen.
Wie viele Ihrer Vorfahren sind in Auschwitz und anderswo ermordet worden?
Das weiß ich nicht genau. Einige von ihnen sind emigriert, andere sind im Holocaust umgekommen.
Hat Ihre Großmutter Ihnen ihre Lebensgeschichte ausführlich erzählt?
Meine Großmutter hat einen Essay über Ihre Zerrissenheit geschrieben. Sie kam aus einer konvertierten Familie und hatte viele jüdische Verwandte in Berlin. Ihr großer Riss war, dass sie abtauchen konnte und die anderen nicht. Dadurch fühlte sie sich schuldig. Auch, weil sie nicht den Mut hatte, sich gegen den Faschismus zu stellen – aus Angst um ihre eigene Familie. Sie hat sich ihre konformistisches Haltung nie verziehen. Das alles ist in „Dunkles Kapitel“ mit eingegangen.
In „Dunkles Kapitel“ sind so unterschiedliche Gäste wie Megaloh, Sugar MMFK und Dirk von Lowtzow zu hören. Was verbindet die drei miteinander?
Es sind alles politische Menschen, die Kunst machen. Ich schätze sie sehr als Musiker und als Menschen. Mir ging es darum, verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen, um eine größere Repräsentanz zu schaffen.
Wird es für Jugendliche immer schwieriger, herauszufinden, welche Künstler zu den Guten gehören?
Das glaube ich auf jeden Fall. Die neue Rechte ist besonders gut darin, sich bestimmte Handlungsweisen und Ausdrucksformen zu eigen zu machen, die ursprünglich ganz anders konnotiert waren. Das immer gleich zu erkennen ist sehr schwierig für junge Leute. Es ist eine komplizierte Zeit, um groß zu werden.
Max Herre auf Tour
Der Songschreiber geht auf „Athen Tour 2020“ und tritt am 2. März um 20 Uhr in der Stadthalle in Fürth auf sowie am 14. März um 20 Uhr im Haus Auensee in Leipzig. Karten für das Konzert gibt es im Ticketshop unserer Zeitung.